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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1068–1070

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Orde, Klaus vom [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 314 S. = Edition Pietismustexte, 8. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-04324-8.

Rezensent:

Patrick Bahl

Unter dem Titel »Pietas et Eruditio« hat Klaus vom Orde in der Reihe »Edition Pietismustexte« fünfzehn Quellen pietistischer Provenienz versammelt, die sich mit Konzeption, geistlicher Gestaltung und dem Curriculum des Theologiestudiums befassen. Die Anthologie möchte dabei verschiedene literarische Gattungen (Programmschriften, Briefe, Gedichte, theologische Essays), pietistische Strömungen und einen zeitlichen Rahmen von immerhin 200 Jahren Kirchengeschichte berücksichtigen.
Die Ouvertüre – gleichsam ein Appetitanreger – bildet ein Brief Arndts an Johann Gerhard von 1603, in dem der Briefeschreiber den umsichtigen Ratschlag gibt, die Auswahl der Studienlektüre einer eingehenden Prüfung folgen zu lassen: Kaufen sollte ein Studiosus nur solche theologische Literatur, für die er eine gewisse geistliche Zuneigung empfindet (I). Die folgenden, bekannten Abschnitte zur Studienreform aus Speners Pia Desideria (II) dürfen – auch des Anspruchs auf Vollständigkeit halber – in der Anthologie nicht fehlen. Hier werden sie nun aber von der wichtigen Programmschrift Speners De Impedimentis Studii theologici flankiert (IV), in der die Reformvorschläge aus den Pia Desideria spezifiziert werden: Die Bedeutung einer bodenständigen philologischen Ausbildung und der philosophischen Propädeutik für das Theologiestudium wird hervorgehoben, durchaus kritisch schaut Spener auf die Predigtlehre und deren rhetorisches Fundament (der Student sollte nicht zu hoch von ihr denken). Speners Forderung nach einer Balance von Frömmigkeit und theologischer Bildung, kurzum nach Formung und Festigung einer authentischen theologischen Persönlichkeit sowohl des Studenten als auch des Lehrenden zieht sich nun wie ein Cantus Firmus durch die folgenden Texte, freilich mit sehr un­terschiedlichen Schwerpunkten. Seckendorffs Überlegungen hinsichtlich der Einrichtung eines Predigerseminars (III) halten beispielsweise vergnügliche Sittengemälde der Absolventen des Theologiestudiums bereit: Sie stehen sich und der Versehung ihres Predigeramtes ob ihres hölzernen, universitären Habitus’ und ihres studentischen Müßiggangs im Wege, sodass es einer Insti-tution bedarf, die den Übergang von der hermetischen, akademischen Welt in die pfarramtliche Wirklichkeit behutsam begleitet. In diesem Zusammenhang bietet vom Orde zwei weitere Texte, die sich mit der Einrichtung ähnlicher Seminare befassen: eine »Projektskizze« Franckes (VI) und eine Studien- und Hausordnung des Seminars in Flechtdorf (VII). Franckes Idea studiosi Theologiae (V) entwickelt die Ansätze Speners programmatisch weiter: Die Einheit von Leben und Lernen erweist sich dabei als wichtigstes Kriterium eines erfolgreichen Studiums: »daß sein Hertz rechtschaffen sey vor Gott« (60) sei dessen wesentliches Ziel. In dieser Betonung der Buße und Herzensbekehrung trifft sich der Text mit der nun folgenden Disputation, die unter Joachim Justus Breithaupt gehalten wurde (VIII). Rambachs gigantischer Entwurf »Wohl unterrichteter Studiosus Theologiae« (IX) – in der Edition selbstverständlich nur in Auszügen geboten – trägt bereits Züge einer Pastoraltheologie und eines spirituellen Begleiters des Studiums in allen Lebens- und Glaubenslagen.
Es folgt ein Seitenblick auf den »radikalen« Pietismus, dessen fundamentale Kritik an der verfassten Kirche auch die Desavouierung der herkömmlichen akademischen Ausbildung einschließt: Gmehlins »Apologie« richtet sich nicht mehr nur gegen eine überbordende philosophische Propädeutik, sondern auch gegen die philologische Ausbildung, die noch Spener und Francke am Herzen lag, und betont die Notwendigkeit einer geistlichen Aneignung der Schrift (X). Auch in Haugs »Studenten=Gesang« (XI) artikuliert sich die Kritik an der theologischen Wissenschaftslandschaft und am akademischen »Witz« (191) – hier allerdings in lyrischer Form. Bengels er­munternder »Vorschlag wie ein Cursus theologicus in vier bis fünf Jahren zu verrichten seyn möchte« weiß sich (wie Rambachs »Studiosus«) ganz der lutherischen Trias von oratio, meditatio und tentatio verpflichtet, seine umfangreichen Lektüreempfehlungen lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob sich für eines von dreien während des Studiums Gelegenheit findet (XII). In einem weiteren Text macht Bengel den Vorschlag, durch das Studium hindurch ein Kompendium der wichtigsten theologischen Topoi anzulegen und zu pflegen (XIII). Döderleins Festrede auf den Vorzug der biblischen Theologie vor der scholastischen (XIV) setzt sich bereits mit der frühen Aufklärungstheologie auseinander und stellt fest, dass sich Theologie nur dann als biblisch legitimieren könne, wenn sie ihre Ausgangsfrage bei der Heiligen Schrift selber nehme und zu ergründen versuche, was Gott sagt – demgegenüber grenzt sich der Festredner gegen jede philosophisch-systematisierende Dämpfung der biblischen Offenbarung ab. Abgeschlossen wird die Edition von einem Auszug aus Jung-Stillings »Graue[m] Mann« (XV) – auch hier widmet sich der Autor dem Kampf gegen die aufkeimende Neologie und schlägt angesichts des vermeintlichen Verfalls der akademischen Theologie den Weg in eine separatistische Ausbildung vor.
So ausgewogen und sorgsam abgestimmt die Auswahl der Quellentexte ist, so löblich sind auch die formale Gestaltung der Edition und die umfangreichen Beigaben: Bibelstellen-, Personen- und Ortsregister sowie die beigefügte Bibliographie dienen als zuverlässige Orientierungshilfen. Anerkennung verdienen auch vom Ordes gewissenhafte, präzise und nirgends redundante Kommentierung der Texte und sein umfangreiches Nachwort, das über einen bloßen Epilog weit hinausgeht, bietet doch der Herausgeber auf knapp 40 Seiten eine kompakte und prägnante theologiegeschichtliche und historische Verortung der Texte. Allein, es wäre übersichtlicher gewesen, hätte man diese wertvollen Hinführungen den Texten jeweils vorangestellt. Vom Ordes Edition wird sich als verlässliches Quellenkompendium in jedweden kirchengeschichtlichen Verwendungszusammenhängen erweisen, denn sein kirchenhistorischer Wert liegt auf der Hand: In den Texten drängen einerseits Grundanliegen pietistischer Theologie zur Konkretion, andererseits werden im chronologischen Gefälle der edierten Quellen die unterschiedlichen Frontlinien und theologischen Konstellationen erkennbar, mit denen sich der Pietismus im Laufe der Zeit auseinandersetzen musste. Darüber hinaus dürfte der Band aber auch in propädeutischen, systematisch- und praktisch-theologischen Kontexten Beachtung finden. Mag die Lektüre der Edition eine Studienfachberatung auch nicht ganz obsolet machen, der Studienanfänger von heute dürfte sich durchaus zu einer kritischen Selbstverortung im Spannungsfeld von pietas und eruditio angeregt sehen.
Überhaupt müsste jedem Leser – insbesondere wenn er sich als Studierender oder Lehrender der Theologie betätigt – unmittelbar einleuchten, dass die Debatte um Ziel und Rahmenbedingungen des Theologiestudiums, die die unterschiedlichen Quellentexte in ihrem spezifischen historischen Kontext führen, längst nicht erledigt ist. Wie der theologische Nachwuchs ausgebildet werden soll, wird immer im Kontext einer grundsätzlicheren, theologischen Frage zu diskutieren sein: In welchem Verhältnis stehen Glaube und Vernunft, Frömmigkeit und Bildung, vocatio interna und die Bereitschaft zu entbehrungsreichen, langwierigen Studien des Wortes?