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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1063–1066

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Böttrich, Christfried, Kuhn, Thomas K., u. Daniel Stein Kokin[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Greifswalder Lehrsynagoge Johann Friedrich Mayers. Ein Beispiel christlicher Rezeption des Judentums im 18. Jahrhundert.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 606 S. = Greifswalder Theologische Forschungen, 26. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04529-7.

Rezensent:

Gert Haendler

Johann Friedrich Mayer (1650–1712) war Generalsuperintendent für das schwedische Vorpommern und der führende Professor an der Theologischen Fakultät Greifswald. Das Vorwort bezeichnet ihn als die »erste Persönlichkeit, die den Namen der Theologischen Fakultät in ihrer bis dahin schon 245-jährigen Geschichte nun auch weit über Greifswald hinaus bekannt machte« (9). Von Mayers Bibliothek sprach damals ganz Europa, zumal von einer Besonderheit – der »Lehrsynagoge« –, die der bekehrte Jude Christoph Wallich 1708 im Auftrag Mayers aufgebaut hatte. Auf dieses fast unbekannte Dokument hatte 2008 Thomas Willi im Kontext christlich-jüdischer Beziehungen hingewiesen. 2010 kam aus Dresden ein Impuls vom Oberkonservator Michael Korey, der zum 300-jährigen Bestehen des Dresdener Zwingers größere Recherchen zur »Synagoge« unternommen hatte. 2012 hatte Christfried Böttrich als Beitrag zur Festschrift zum 50. Jahrestag des Instituts Kirche und Judentum gefragt: »Die Mayersche Lehrsynagoge in Greifswald – das erste Museum Judaicum in Deutschland?« Von hier aus werden nun die Probleme nach mehreren Seiten hin untersucht.
Zunächst stellt Thomas Kuhn das regionale Umfeld unter dem Titel »Judenfeindschaft und Judenbekehrung. Zur Geschichte der Juden in Pommern um 1700« dar. Bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges gab es in Pommern nur wenige Juden. Der jüdische Goldschmied Moses Helmstedt hatte von der schwedischen Regierung 1681 die Erlaubnis erhalten, sich als »Münzjude« in Greifswald niederzulassen, doch machten ihm die Bewohner und auch die Geistlichkeit das Leben schwer, so dass er die Stadt 1699 verließ. Von der nächsten bekannten Gestalt Johann Friedrich Mentes wird die Taufe 1701 in Greifswald geschildert in einer »Ausführlichen Beantwortung« 1718. Schriften von Mentes stellen ihn schon in eine Reihe mit den getauften Juden, die »judenmissionarische Initiativen zeigten« (75).
Böttrichs Einleitung »Die Mayerische Synagoga in Greiffswalde« nennt Drucke 1708 und 1711 in Greifswald, 1712 in Helmstedt sowie 1715 in Braunschweig. Es war »eine Art Sammlungskatalog«, der »auflistet, was man in der Domstraße 14 (3) alles sehen kann« (80). »Am Anfang stehen Ritualobjekte, gefolgt von Tafeln mit Gebetstexten, wie sie im Gottesdienst verwendet werden; die weiteren Stücke betreffen eine Rabbiner-Puppe und kleinere Papiere, die charakteristisch sind für jüdisches Leben« (84). Die Textausgabe bietet den Druck von 1715 als »Ausgabe letzter Hand« (86). Es folgt ein Kommentar von Christfried Böttrich und Daniel Stein Kokin. Die Synagoga war kein Dialog, sie wollte »die Bekehrung des jüdischen Gegenüber« (133). Im Kapitel »Geschichte der Mayerschen Synagoge« nennt Böttrich weitere Zusammenhänge: Den funktionstüchtigen Raum schuf Wallich in Erinnerung an Synagogen seiner Jugend in Worms und Frankfurt (195). Aber die Lehrsyna-goge in Greifswald steht nur in einer Bibliothek ohne Bezug zum lebenden Judentum, als Studienobjekt, als Katalognummer (201). Im Nordischen Krieg wurde das schwedische Greifswald 1711 von dänischen und sächsischen Truppen besetzt, denen Russen folgten. Mayer, 61 Jahre alt, betete öffentlich für die Obrigkeit in Schweden und starb 1712 nach einem Schlaganfall. Die Bibliothek wurde in 60 Kisten abtransportiert. Zur Versteigerung in Berlin 1716 nennt ein Katalog 1004 Nummern (204).
Die Universitätsbibliothek Leipzig erwarb die Synagoga. Der König von Sachsen ließ sie 1717/18 nach Dresden bringen. Vorher schrieb man sie in Leipzig ab, so dass es sie nun »in doppelter Gestalt« gab (219). In Leipzig geriet der Bestand bald in einen desolaten Zustand. 1814 wurden einige Schränke für Exponate in der »Judenschule« erwähnt. Die Universitätsbibliothek bezog 1891 einen Neubau, damit war für Mayers Synagoga die Zeit in Leipzig »endgültig abgelaufen« (222). In Leipzig gab es eine jüdische Gemeinde und an der Universität eine Orient-Forschung. Die Sammlung in Dresden kam in einen neuen Zusammenhang: 1732 hatte August der Starke eine Rekonstruktion des Salomonischen Tempels »an zentraler Stelle des Zwingers eingebunden« (223). Dort fand die Synagoga Platz – als Teil der Naturalienkammer (228). Der Mineraloge Christian Gottlieb Pötsch sah 1805 die Ausstellung im Zwinger mit einer Übersicht »des ganzen gegenwärtigen jüdischen Gottesdienstes von einem jüdischen Proselyten Wallich« (230). 1836 kaufte der jüdische Kaufmann Samuel Elb die Ausstellung und stellte sie privat aus. 1840 wurde eine Synagoge in Dresden geweiht, die Ausstellung fand kein Interesse mehr, vielleicht hat Elb einige Exponate der jüdischen Gemeinde übergeben »als Teil der eigenen Tradition« (243). In der Pogromnacht am 9.11.1938 verbrannte die Dresdener Semper-Synagoge (244).
Im folgenden Beitrag bietet Böttrich Details über »Christoph/alias Anschel Moses/Wallich (1672–1743)«. – Wallich wurde in Worms geboren, wo eine jüdischen Gemeinde ca. 500 Mitglieder zählte (249). 1689 wurde Worms zerstört, Wallich verdiente sein Geld als Schreiber und Kantor in Frankfurt. 1699 ging er nach Celle, wo Gerichtsakten ihn nennen. Dazwischen muss er in Hamburg dem Judenmissionar Edzard begegnet sein, der »nicht weniger als 148 Juden bekehrte« (266). Dort lernte er auch Johann Friedrich Mayer kennen, den Hauptpastor an St. Jakobi. Getauft wurde Wallich 1701 in Zeitz, ein ausführlicher Bericht liegt vor (271 ff.). 1706 kam Wallich zum Studium der Theologie nach Greifswald, wo er die »Synagoga« schuf. 1708/09 studierte er in Rostock, danach in Helmstedt. 1710 begann er eine Beamtenlaufbahn in Braunschweig, 1712–1719 stieg er auf. Unklare Geldgeschäfte brachten ihn ins Gefängnis, nach der Entlassung ging er 1721 nach Leipzig, wo man ihn als Autor des Greifswalder Projekts »noch einmal mit einer Reihe von weiteren Kopien betraut« (297). Er tauchte 1738 als »Hofprofessor« in Dresden auf, wo er 1743 beigesetzt wurde (301). Böttrich untersuchte auch »Christoph Wallichs Gelegenheitsdichtungen«. Die erhaltenen sechs Texte wenden sich an fürstliche Personen, sie werden vollständig zitiert und im Druck abgebildet (331–347).
Über das Thema »Der lutherische Kontroverstheologe Johann Friedrich Mayer und das Judentum seiner Zeit« informiert Volker Gummelt, dessen Habilitationsschrift über Mayers Streit mit Phi-lipp Jacob Spener und August Hermann Francke 1996 ungedruckt blieb. Mayer wurde 1650 in Leipzig geboren, war ab 1673 Pfarrer in Leisnig, von 1684 bis 1686 in Wittenberg Stadtpfarrer und Professor und ab 1686 Hauptpastor in Hamburg. Der Schwedenkönig Carl XI. ernannte ihn zum Consiliarius rerum ecclesiasticarum Primarius per omnias provincias Sueco-Germanicas; Mayer war also zuständig für die Kirche in Schwedisch-Vorpommern, Wismar, Bremen und Verden. Erst 1701 trat er seine Ämter in Greifswald an. Vorher war Mayer in Hamburg dem Judenmissionar Esdras Edzard begegnet, der 1656 in Rostock mit der Thematik »adversus Judaeos« promoviert hatte. Mayer setzte sich für Edzard ein und übernahm mehrere Arbeiten von ihm 1690 in sein Lehrbuch »Museum ministri ecclesiae« (362). Mayer war besorgt darüber, dass es in Hamburg neun Synagogen gab. Mayers Haltung zu Juden war geprägt »von einer verachtenden Feindschaft« (369). Dirk Alvermann stellt Jo­hann Friedrich Mayer dar als »Wissenschaftsorganisator« in Greifswald 1694, Kiel 1701 und abermals Greifswald 1701 und 1705. Reformen in Greifswald hielt er 1694 für unmöglich, daher empfahl er eine Verlegung der Universität nach Stettin (383). Bei seiner Berufung nach Greifswald 1701 setzte er Reformen durch mit acht Neuberufungen (394). Seine Gegner in Greifswald hatten auch Beziehungen zum Hof in Stockholm, so dass Alverman die Vorgänge überschreibt mit »Fiasko in Greifswald« (391). Mayers Verhalten gegenüber den Besatzern 1711 machten ihn »zum Symbol wahrer schwedischen Königstreue« (423). Mario Schmelter untersucht die Dekanei in der Greifswalder Domstraße 14(3), in der die Synagoga untergebracht war. Karten geben Aufschluss über das Haus, das man 1784 abriss. Der Neubau trug einen Dachreiter, der auf Caspar David Friedrichs Bild »Wiesen vor Greifswald« 1818 erkennbar ist (441). Bis heute nutzen Institutionen der Universität das Haus; es vermittelt jedoch »nur noch eine Ahnung einstiger Bedeutung« (445).
Thomas Willi untersucht unter dem Titel »Christentum und Judentum – Disgruenz und Konvergenz im Spiegel von Christoph Wallichs Blütenlese rabbinischer Lehrsprüche« (449) Wallichs An­hang »74 Talmudische Moralen, die mit Christi Lehr wohl übereinstimmen«. Wallich hatte sie »an keinem Ort übersetzt angetroffen auch mit großer Mühe aus dem Talmud colligiert dem hochgeneigten Leser zur Beygabe der bei dieser Mayerischen Synagoga präsentieren wollen« (449). Der Text ist abgedruckt auf den Seiten 122–132. Willi erinnert an die Hebraica Veritas bei Hieronymus (452), an Reuchlins Rudimenta hebraica (455) und ähnliche gelehrte Bestrebungen.
Wallich bot ein Florilegium ohne Systematik – dem Talmud durchaus ähnlich. Dafür beanspruchte er mit Recht Originalität (463). Auf evangelischer Seite war man bereit, diesem Anliegen »Raum zu gewähren« (471). Der in Jerusalem lehrende Jacoov Deutsch beschreibt »Wallich’s Book in its Historical and Literary Context«. Er verweist auf ähnliche Darstellungen des Judentums in Regensburg 1723, Fürth 1754 und Speyer 1759. Die Darstellung in Greifswald bezeichnet er als »unique and imporant contribution to early modern literature on the Jews« (483). Ruth Langer, Professorin in Boston, untersucht »Wallichs Polemical Discussion of Aleynu and its Context«. Aleynu sei ein jüdisches »Lästergebet« (492), das Wallich ablehnte auch unter Hinweis auf einen Erlass des »frommen Königs« Friedrichs I. 1703. Der hatte »einen ernstlichen Befehl erlassen, in welchem den Jüden, so sich unter Ih. König. Maj. in Preußen Allergnädigsten Schutz aufhalten, das Lästergebet weder in der Synagoga noch im Hause bei hoher Straffe zu beten verboten, auch aller Orten gewisse Leute dazu verordnet, darauf Achtung zu geben« (495 f.). Naomi Feuchtwanger-Sarig (Tel Aviv) bringt eine Vorlesung zum Druck, die sie 2015 gehalten hat: »The Mayerische Synagoga Greiffswalde Reconstructet«. Sie nennt Beiträge aus dem hier vorliegenden Buch über diese Synagoga (501). Schon in den »Jüdischen Merkwürdigkeiten« von Johann Jakob Schudt 1714 in Frankfurt wurde Wallich positiv beurteilt (508). Das Referat bringt zum Vergleich Bilder der Synagogen Krakau sowie Worms, der ältesten in Deutschland, die 1959 nach alten Plänen wieder aufgebaut worden war (521). Eine Abbildung von Johann Alexander Böner 1705 zeigt die alte Judenschule in Fürth (540). Zustimmend wird Wallichs Frage zitiert, »ob auf 50 Meilen bey den Juden selbsten eine solche saubere Synagoge wird anzutreffen seyn/die nicht allein das Zimmer gar helle und schön ist/sondern auch alles in Ordnung zu finden/so bey den Juden was seltsames ist« (551). Es ist bedauerlich, dass die »Synagoga« nicht erhalten ist. Umso mehr ist Wallich zu danken, der sie durch meisterliches »painting with words« rekonstruieren konnte (551).
Michael Korey, Oberkonservator in Dresden, untersucht unter der Überschrift »Eine so vollkommenlich eingerichtete Synagoge« das Sammeln und Ausstellen von jüdischen Ritualgegenständen durch Nichtjuden in der ersten Hälfte des 18. Jh.s (553).
Es geht zunächst um die Synagogennachbildung des Convertiten Georg Moritz Christiani in Regensburg, die Georg Serpelius 1723 beschrieben hatte (554). »Sehr wahrscheinlich hat dabei die Greifswalder Synagoge diejenige in Regensburg inspiriert.« (561) Über eine Synagogennachbildung in Uppsala berichtete 1736 der schwedische Orientalist und Bibliothekar Anders Norrelius, der Geld beantragte zum Ankauf »seltener jüdischer Antiquitäten« aus dem Besitz des Superintendenten Georg Wallin. Auch hier gibt es »Indizien, die auf eine Verbindung nach Greifswald und zu der dortigen Modellsynagoge schließen« lassen (567). Korey spricht von einem beginnenden »Markt« (569). Schon 1704 lag in Hamburg eine Konzeption vor, der Mayer, Serpelius und Norrelius folgten (570).
Jens Hoppe führt zu Böttrichs Frage von 2012 zurück mit dem Thema: »Die Greifswalder Lehrsynagoge und die Anfänge der Museologie des Jüdischen in Deutschland«. Fürsten und Gelehrte in München, Braunschweig und Dresden u. a. wollten mit der Ausstellung von Raritäten ihre Macht zeigen. Wallichs Synagoga wollte primär den jüdischen Aberglauben begreiflich machen. Man kannte »als Nebeneffekt auch Vergnügen an dem Kuriosen« (584), aber »langfristiges Ziel war die Bekehrung von Juden zum Chris­tentum« (585). Die Dresdener Ausstellung »diente der Verherrlichung August des Starken«, die Mayersche Sammlung hatte dafür nur begrenzten Wert, daher konnte sie nicht lange überleben (604).
Der Sammelband trägt erstaunlich viel Material und Ergebnisse über ein kaum bekanntes Dokument zusammen. Den Herausgebern und den Autoren – vor allem Christfried Böttrich in beiden Funktionen – gebühren Dank und hohe Anerkennung.