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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1251–1253

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Nehring, Jutta

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirche und Völkerbund. Nationale und internationale Positionen im deutschen Protestantismus zwischen 1918/19 und 1927.

Verlag:

Hamburg: Krämer 1998. 579 S. 8 = Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, 23. ISBN 3-89622-028-4.

Rezensent:

Kurt Nowak

Die geschichtswissenschaftliche Dissertation Jutta Nehrings (Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg 1997) beschäftigt sich mit einem Thema, das in Forschungen zur Weimarer Republik bislang nicht fehlte, aber noch nie extensiv, d. h. monographisch abgehandelt worden ist. Der Völkerbund, gegründet 1919/20, war die erste internationale Organisation zur Sicherung des Weltfriedens und zur Förderung der Gemeinschaft der Völker. Bei der Gründung gehörten ihm 32 Staaten an. Deutschland trat 1926 bei.

Die Vfn. beschäftigt sich in sieben Kapiteln mit der ideellen Vorgeschichte des Völkerbundgedankens im 19. Jahrhundert (Kap. 1), den Folgen des Ersten Weltkrieges (Kap. 2), den ökumenischen Bestrebungen im "Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen von 1914 bis 1925" (Kap. 3), um in den weiteren Kapiteln den Schwerpunkt auf den Mehrheitsprotestantismus der Zwanziger Jahre zu legen: "Protestantismus, Völkerbund und Minderheitenschutz" (Kap. 4), "Der Völkerbund in der internationalen kirchlichen Einigungsarbeit. Die deutsche Beteiligung an Life und Work und die Stockholmer Weltkirchenkonferenz 1925" (Kap. 5), "Nationale Konzeptionen gegen den Völkerbund" (Kap. 6), "Resignation und Pragmatismus. Neue Orientierungen im deutschen Protestantismus und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund" (Kap. 7). Die beiden Vorlaufkapitel sind etwas flächig ausgefallen, worauf nur eben hingewiesen sei, da Stärke und Proprium der Studie anderswo zu suchen sind. In Schleiermachers Staatstheorie und Völkerrechtsideen (49 ff.) ist die Vfn. jedenfalls nicht zu Hause. Der Wert der Studie liegt in den ereignis- und problemgeschichtlichen Kapiteln 3-7.

Die Vfn. entfaltet ein differenziertes Spektrum der politischen und theologischen Optionen im deutschen Protestantismus von der Unterzeichnung des Versailles Friedensvertrages am 28. Juni 1919 bis zu Deutschlands Eintritt in den Völkerbund Anfang September 1926 und zum Königsberger Kirchentag 1927. Die archivalische Quellengrundlage ist breit (Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Archives of the World Council of Churches, Archives de la Societé des Nations [beide Genf] u. a.). Über den Atem der großen historisch-politischen und theologischen Analyse verfügt die Vfn. nicht, wohl aber über die Gabe des genauen Referats. Das Politische kommt ebenso in den Blick wie der theologische Dauerdiskurs über das Verhältnis von Politik, Glauben und Reich Gottes - dies im Kontrast zu Denkmodellen im angelsächsisch-calvinistischen Christentum.

Wichtig, obschon überzogen, ist die These, daß die Vision eines dauerhaften Friedens und des geordneten Zusammenlebens der Völker gegen Ende des Ersten Weltkrieges im deutschen Protestantismus zunächst auf starke ("emphatische" - 547 u. ö). Resonanz stieß. Unbestreitbar ist hingegen die Feststellung, die Waffenstillstandsbedingungen und der Versailler Friedensvertrag hätten die Stimmungslage und das Einstellungsverhalten zum "Völkerbund" als Idee wie als Organisation nachhaltig verändert. Fortan standen sich unter den deutschen Protestanten Befürworter und Gegner des Völkerbundes unversöhnlich gegenüber. Das kirchenamtliche Deutschland in Gestalt des "Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses" (DEKA) übte sich in einer Politik der Diagonale. Der DEKA betrieb ökumenische und internationale Politik, um Gerechtigkeit für das besiegte Deutschland zu erlangen.

Wie schwierig die Verhältnisse waren, zeigt die Vfn. an der deutschen Gruppe des "Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen". Den Ideen der Völkerverständigung weit geöffnet, bezeichnete Friedrich Siegmund-Schultze den Völkerbund 1920 dennoch als "Zweckverband zur Schädigung Deutschlands", ja sogar als "das größte Gewaltinstitut" aller Zeiten (202). Der grundlegende Unterschied zum konservativ-nationalen Protestantismus bestand darin, gleichwohl am Programm der Versöhnung festzuhalten. Bei den Kirchenbehörden war der "Weltbund" unbeliebt, was sie nicht daran hinderte, ihn in Fragen des Minderheitenschutzes gelegentlich in Anspruch zu nehmen. Die Gegner der Versöhnung rückt die Vfn. am Beispiel von Wilhelm Stapel, Emanuel Hirsch, Paul Althaus und Wilhelm Freiherr von Pechmann vor Augen (417-482).

Diese Passagen sind ein Destillat, das z. T. hinter den Forschungsstand zurückfällt. Die Studie von J. H. Schjørring (1979) scheint der Vfn. entgangen zu sein. Die Darstellung der deutschen Position im Rahmen von "Life und Work" bzw. vor und während der Weltkirchenkonferenz von Stockholm (339-416) ergänzt den bisherigen Wissenstand um einige Dokumente, die (ein weiteres Mal) die Abstimmung zwischen den deutschen Kirchenbehörden und den Instanzen der Politik belegen. Daß die deutsche Delegation in Stockholm zu ihrer teils bremsenden, teils obstruktiven Haltung durch die Naivitäten einer ökumenischen Reich-Gottes-Politik getrieben worden sei, bestreitet die Vfn. Die Chancen seien aus anderen Gründen vertan worden bzw. gar nicht vorhanden gewesen (411).

Neue Positionen zeichneten sich seit den Locarno-Verträgen 1925 und Deutschlands Beitritt zum Völkerbund 1926 ab. Am 4. Februar 1927 versammelten sich im Reichstagsgebäude mehr als 100 evangelische Kirchenmänner und Theologen zur (Neu)-Gründung des Theologenausschusses der "Deutschen Liga für Völkerbund". Die Leitung übernahm Otto Dibelius. In einer von der deutschen Öffentlichkeit als überraschend empfundenen Rede bekannte sich der kurmärkische Generalsuperintendent aus Gründen des politischen und theologischen Realismus zur Mitarbeit der evangelischen Christen im Völkerbund. Die Vfn. sieht Dibelius als Pragmatiker, der dem neuen Konzept von Deutschlands Außenpolitik folgte und mit dem Theologenausschuß zugleich dem "Weltbund" das Wasser abgrub (528-540). In einer jüngst erschienenen Studie zu Dibelius, die der Vfn. wahrscheinlich noch nicht zugänglich war, wird dem Generalsuperintendenten ein "nahezu totale(r) Sinneswandel" attestiert, da er seinen Pragmatismus mit dem "Ja" zur Völkerbundidee verband (Hartmut Fritz: Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur. Göttingen 1998, 316 f.). Der Königsberger Kirchentag 1927 befestigte die innen- und außenpolitische Loyalität des kirchlichen Deutschland zur Weimarer Republik.

Nach dem Urteil der Vfn. war im scheinbaren Erfolg "das Paradoxon des Scheiterns" angelegt, und zwar deshalb, weil die pragmatische Linie der kirchlichen Außen- und Ökumenepolitik von 1926/27 zur Verdrängung der ab ovo friedenswilligen und versöhnungsbereiten Kräfte des "Weltbundes" führte. Die nationale und kirchliche Interessenpolitik war nicht vor den Versuchungen eines völkischen Nationalismus gefeit. "Der Genfer Völkerbund war als de facto bestehende Institution nun zwar letztlich akzeptiert, das ihm zugrunde liegende Ideal des Bundes als Garanten eines dauerhaften friedlichen Zusammenlebens der Völker jedoch, wurde weiterhin in Frage gestellt, oder gar als gegen den Willen Gottes gerichtet empfunden" (554).

Wenn die Monographie auch keineswegs alle Wünsche erfüllt - analytisch, kompositorisch, stilistisch -, und wenn die Zusammenführung von historisch-politischen, kirchengeschichtlichen und theologischen Perspektiven nicht durchweg gelingt, so bereichert sie doch zweifellos unser Wissen um die Versuche zur nationalen und internationalen Standortbestimmung des deutschen Protestantismus zwischen 1918/19 und 1927. Ein Personenregister hätte den Zugang zu dem reichhaltigen Personentableau der Dissertation erleichtert.