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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

102–105

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Heckel, Martin

Titel/Untertitel:

Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte. Bd. III u. IV. Hrsg. von K. Schlaich.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XXXVI, XXX, 1191 S. gr.8 = Jus Ecclesiasticum ’ 58. Lw. DM zus. 238,-. ISBN 3-16-146740-X.

Rezensent:

Jürgen Stein

Nachdem 1989 die ersten beiden Bände dieser Sammlung von Beiträgen des Tübinger Professors für Kirchenrecht aus Anlaß seines 60. Geburtstages erschienen sind, enthalten Band III und IV danach publizierte Schriften. Dieses Verfahren bringt es mit sich, daß hier Aufsätze vorliegen, die zur Zeit ihrer Sammlung an dieser Stelle anderswo im Druck waren und daß sogar ein ansonsten unveröffentlichter Beitrag (Religionsfreiheit. Eine säkulare Verfassungsgarantie) aufgenommen wurde. Der Herausgeber betont im Vorwort das editorische Prinzip, der Authenzität der Beiträge Vorrang vor der Eliminierung von Doppelungen in den Texten zu geben. Der Leser wird daher gut daran tun, sich diese Ausgabe auch mit Hilfe des ausgezeichneten und in die Tiefe gegliederten Personen- und Sachregisters am Ende von Band 4 zu erschließen, mit dessen Hilfe aus der Textsammlung ein Nachschlagewerk zu grundsätzlichen wie aktuellen Themen des Kirchenrechts, der staatlichen und kirchlichen Existenz wird.

Die Beiträge der beiden Bände sind - so unterschiedlich sie in Thematik und Ansatz auch sein mögen - von der durchgängigen Überzeugung Heckels bestimmt, daß in den aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen "Kirchenartikeln" des Grundgesetzes ein umfassender Ausgleich historisch wirksamer Spannungen gegeben ist, der seine Wirkungen sowohl auf die Art und Weise hat, wie Staat und Kirchen ihre Beziehungen auszugestalten haben wie auch - und dies wäre zweifellos zu betonen - auf die Art und Weise, wie sie ihre inneren Strukturen, ihr Kirchenrecht und ihre Leitbilder gestalten sollten.

"Das freiheitliche Staatskirchenrecht hat sich zwar theologisch entleert und zum neutralen allgemeinen Rahmenrecht erweitert; aber gerade dadurch schützt es das theologische Selbstverständnis aller Religionsgemeinschaften und nimmt in seinen weltlichen Normen auf den religiösen Eigensinn der Religionsgemeinschaften bei deren Rechtsverhältnissen ohne etatistische Vergewaltigung und ohne fremdkonfessionell-ideologische Verfälschung Bezug" (Die Veränderungen des kanonischen Rechts, 379). "Trotz des tiefen Wesenunterschiedes kommt das christliche Freiheitsverständnis in den säkularen, offenen Freiheitsnormen des pluralistischen Verfassungsstaates zur weltlichen Entfaltung" (Der Einfluß des christlichen Freiheitsverständnisses, 550). "Staatskirchenrecht und Kulturverfassungsrecht in Deutschland dürfte im internationalen Vergleich den Rechtsordnungen der meisten anderen Staaten an Tiefgang und Freiheitlichkeit überlegen sein" (Kulturkampfaspekte, 489). Die Entstehung und Grundbe dingungen dieser "religionsfreundlichen Trennung" (Staatskirchenrecht und Kulturverfassung, 926) sind zentrale Themen vieler Beiträge.

In Aufsätzen zum Allgemeinen und Besonderen Gleichheitssatz in Art. 3 GG wird dargelegt, wie ein solches Verständnis Differenzierung zwischen Religionsgemeinschaften fordert, ohne daß ein "Privilegienvorwurf" berechtigt wäre (manches "wirkt sich nur zugunsten derjenigen Religionsgemeinschaften aus, die auch die materiellen Voraussetzungen hierfür ... erfüllen", Der Allgemeine Gleichheitsgrundsatz, 882) und ohne daß "das religiöse Diskriminierungsverbot zur Diskriminierung des Religiösen" verwendet wird (Der Besondere Gleichheitsgrundsatz, 894). "Staat und Kirchen leben und wirken im selben Volk, im selben Raum, in der gleichen Welt; nicht die Verdrängung aus der Welt wie in den atheistischen Systemen, sondern die freie Entfaltung des Religiösen in der Welt wird durch die Verfassung gewährleistet" (Die staatliche Gerichtsbarkeit in Religionssachen, 1039).

Zwischen den Bänden I/II und III/IV lag die deutsche Wiedervereinigung. Zwei Beiträge nehmen unmittelbar darauf Bezug. Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk tritt allen Argumenten entgegen, daß das Grundgesetz infolge der Erfüllung des Wiedervereinigungsauftrages nun unmittelbar im Sinne des Art 146 n. F. womöglich plebiszitär zu ersetzen sei (wie ernst es H. in dieser Sache war, läßt sein bis zu den "Standortkommandanten" reichender Aufruf zum Widerstand gegen eine evtl. von Regierungseite eingeleiteten Volksabstimmung über ein "neues" Grundgesetz erkennen, 61).

Der Beitrag Die Wiedervereinigung der deutschen evangelischen Kirchen analysiert mit zahlreichen Erst-Hand-Zitaten die damaligen durchaus spannungs- und emotionsgeladenen Abläufe, wobei H. seine Position darlegt, daß die Notwendigkeit eines eigenen "Beitrittsaktes" der ostdeutschen Landeskirchen zu verneinen war, da deren Zugehörigkeit zur EKD nie erlosch. Er wirft hier insbesondere der letzten Synode des Kirchenbundes der DDR vor, eine "juristische Münchhausiade" aufgeführt und zur Bildung falscher Legenden beigetragen zu haben (155, 169).

Auch die Beiträge zu scheinbar geschichtlichen Themen sollen stets zur Verklarung der grundsätzlichen Fragen dienen. "Die christliche Verkündigung und Kirche bedarf des Rechts und seiner Institutionen, wenn sie nicht ... in eine rechtsfreien und funktionsunfähigen Liebesanarchismus zerfließen soll. Aber das Recht wird in der Ordnung der Kirche zur Gefahr und Hemmnis für die Verkündigung, wenn es sich aus der geistlichen Bedingtheit und Bestimmtheit durch das Bekenntnis (als dem menschlichen Zeugnis von der Wahrheit und Einheit der Offenbarung Gottes) löst, verselbständigt und einer Säkularisierung des Kirchen- und Kirchenrechtsverständnisses anheimfällt" (202).

Destruktive Tendenzen zeigten sich z. B. im alten Hl. Römischen Reich Dt. Nation und dem Versuch, hier von außen auf die Wiedereinigung der Konfessionen hinzuwirken. H. zeichnet in thematischen Fallstudien Säkularisierung und Konfessionalisierung nach. Auf protestantischer Seite machte der Gegensatz von lutherischer und calvinistischer Richtung die Positionierung schwierig (249 ff.) oder das Kirchenregiment der Landes fürsten (Religionsbann und Kirchenregiment stellt dar, welche Auswirkungen dieses hatte und wie eine wirksame [Selbst]Beschränkung erreicht und begründet wurde; zur katholischen Entwicklung nimmt Die katholische Konfessionalisierung ’ 294 ff., Stellung).

Nicht nur konkrete Rechtsbestimmungen, sondern sogar schon das Rechtsverständnis kann ein "Kuckucksei" werden, mit dem eine Seite die andere unter Druck setzen und sie letztlich unterwerfen will (Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts, 407). Im 19. Jh. versuchte wiederum der Staat mittels des Subordinationsprinzips (Staat und Kirche im 19. Jh., 447 ff.) Kompetenzen an sich zu ziehen und löste damit allseitigen Schaden an: Weitreichende religionsrechtliche Kompetenzen, für deren Ausübung ihm nun taugliche Maßstäbe und Mittel fehlten, verhinderten lange Zeit den realistischen Blick des Staates auf die Möglichkeiten des Zusammenwirkens. Der Kulturkampf ließ die Kosten des Versuches, sich einseitig durchzusetzen, empfindlich deutlich werden und ist so als markante Wegscheide der deutschen Entwicklung zu betrachten.

Die Beiträge zu Einzelfragen des Evangelischen Kirchenrechts geben z. T. gutachterliche Äußerungen H.s wieder und berühren damit eine Fülle von in den genannten Jahren diskutierten Themen, wobei der Vf. jeweils an der Einzelfrage die grundsätzliche Bedeutung herauszuarbeiten weiß (z. B. um die Frage einer Befristung des Bischofsamts in einer lutherischen Landeskirche, die H. nicht befürwortet, 589 ff.). Nachdem H. das Sündenregister linker Tendenzen in Praxis und Verkündigung der Kirchen aufgemacht hat (599 f.), gesteht er ihr "manchmal" weltliches Parteiergreifen zu, allgemein müsse sie jedoch sich in ihrer Verkündigung bescheiden und die Eigenständigkeit und Freiheit des Christen im weltlichen Beruf respektieren (Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, 640).

Hochschul- und Medienlandschaft sind weitere Themen. Auch hier gelten die gleichen Grundprinzipien: "Das Medienrecht ordnet die Kirche als Teil der Welt dem weltlichen Rechtssystem ein, ohne ihre geistliche Freiheit zu ersticken oder säkularisierend zu verfälschen" (Die Kirchen im Medienrecht, 1018); dem steht die Verpflichtung der Kirche gegenüber, "darauf zu achten, daß sie nicht als spezielle Interessenvertretung wie andere weltliche Gruppen auftritt, sondern ihr geistliches Anliegen auch in den weltlichen Äußerungsformen der pluralistischen Debatte als Dienst an den gesamtgesellschaftlichen Belangen deutlich wird. Parteilichkeit ist ihr versagt, auch wo sie ihr geistlicher Auftrag zur klaren Stellungnahme zwingt, die als weltliche Parteinahme mißdeutet werden kann" (ebd. 1020). H. sieht im sogenannten Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 16.5.1995 eine Grenzverletzung von Seiten des Staates, in der ein Ausgleich zwischen der Religionsfreiheit von Christen und Nicht-Christen "nicht durch Abwägung erzielt, sondern durch generelle Überordnung der letzteren ausgeschaltet und ersetzt wird" (Das Kruzifix im öffentlichen Raum, 1130).

Er argumentiert "Für nicht-christliche Kinder hat das Kreuz nur staatliche Kulturbedeutung ohne jene Glaubensverbindlichkeit; sie müssen sich nicht nach den religiösen Maßstäben der Christen richten, wenn das Kreuz angebracht ist. Die christlichen Kinder aber müßten sich nach den ideologischen Maßstäben der nichtchristlichen Kinder richten, wenn das Kreuz auf deren Verlangen abgenommen werden müßte ... Die Grundrechtsabwägung ... erlaubt deshalb ebenfalls dem Landesgesetzgeber Schulkreuze generell in staatlichen Pflichtschulräumen im Rahmen seiner säkularen Erziehungskompetenz anbringen zu lassen" (ebd. 1132).

Bei dieser strengen Argumentation fehlt allerdings auch der Hinweis darauf nicht, daß Christen "das Kreuz geistlich im Herzen tragen sollten" und dafür sorgen sollten, daß Verletzungen Andersgläubiger unterbleiben (ebd. 1135, Anm. 144). Das eine wie das andere entspricht der grundlegenden, immer wieder durchscheinenden Überzeugung H.s von der Durchdrungenheit unseres Kulturkreises von der christlichen Botschaft in allen ihren Formen, die sich in den Künsten ebenso unverwechselbar zeigt wie im Recht.