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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1048–1050

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Thomas Handbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 523 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149230-3.

Rezensent:

Ulrich G. Leinsle

Das Thomas-Handbuch vereinigt 54 Beiträge von 29 Autoren verschiedener Konfession und Ausrichtung, weist aber trotz aller Differenziertheit im Zugang eine starke Einheitlichkeit auf. Diese verdankt sich einem methodisch sauberen und einleuchtenden Konzept.
Unter dem Stichwort »Orientierung« werden zunächst die handschriftliche Überlieferung, Werkausgaben und Hilfsmittel der Thomas-Forschung vorgestellt (H. Anzulewicz), bevor die »Thomasforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts« in pointierten Grundzügen vorgestellt wird (D. Berger). Der erste große Hauptteil betrifft die Person des Aquinaten, aufgeschlüsselt nach Stationen, Traditionen und Beziehungen. Nach einem fundierten Überblick über Kirche und Gesellschaft im 13. Jh. (W. Stürmer) und der frühen Geschichte des Dominikanerordens (V. Leppin) werden die Scholastische Theologie nach Lehrbüchern und Inhalten (I. Klitzsch), Universität und Ordensstudium (V. Leppin) vorgestellt und abschließend der Lebenslauf des Thomas von Aquin in den einzelnen Stationen beleuchtet (G. Schneider-Ludorff). Besondere Beachtung verdient der Abschnitt »Traditionen«, wo in unterschiedlicher Akzentuierung und Tiefenschärfe die Bedeutung von Augustinus (V. H. Drecoll), Dionysius Areopagita und Boethius (R. Rieger), des lateinischen Aristotelismus (F.-X. Putallaz), von Petrus Lombardus (Ph. W. Rosemann), Alexander von Hales und der Summa fratris Alexandri (H. Ph. Weber), Avicenna und Averroes (C. Baffioni, be­deutsam in Absetzung vom sogenannten Averroismus) für Thomas beleuchtet wird. Abschließend werden das Verhältnis von Papsttum und weltlichen Mächten im 13. Jh. (J. Miethke) und die dominikanische Spiritualität (E. H. Füllenbach) erörtert. Im Abschnitt »Beziehungen« wird dem Verhältnis des Thomas zu seinem Lehrer Albertus Magnus (M. Dreyer), seinem Kollegen Bonaventura (M. Schlosser) und dem Aristoteles-Übersetzer Wilhelm von Moerbeke (P. de Leemans) nachgegangen, ferner seine Stellung im Streit zwischen Bettelorden und Weltklerikern (V. Leppin) sowie seine Haltung gegenüber den »Heiden«, vor allem angesichts der von ihm nicht so genannten Summa contra gentiles dargestellt (R. Imbach).
Im zweiten Hauptteil wird das Werk des Aquinaten zunächst in Einzelanalysen, in Gruppen oder entsprechend den literarischen Gattungen vorgestellt. Erfreulicherweise ist hierbei immer die Text- und Quellenkritik berücksichtigt. Dabei hebt sich das der scholastischen Lehre an Universität und Ordensstudium verpflichtete Werk der Quaestiones disputatae (D. Berger), des Sentenzenkommentars (M. Basse), der Kommentare zu Boethius (R. Schönberger) und Dionysius Areopagita (R. Rieger) und vor allem der Bibelkommentare (Th. Prügl) deutlich ab von den Kommentaren zu Aristoteles (R. Schönberger, mit Schwerpunkt auf den kontroversen Themen), zum Liber de causis (S. Folger-Fonfara), den Schriften gegen die pagane Philosophie und die »konsequenten« Aristoteliker, allen voran die Summa contra gentiles, aber auch de unitate intellectus und de aeternitate mundi (R. Imbach). Daneben erfahren auch kleinere einflussreiche Werke wie De ente et essentia (S. Folger-Fonfara), De rationibus fidei (M. Basse), De regno ad Regem Cypri (J. Miethke) eine ausführliche Einzeldarstellung. Die Summa Theologiae wird im Rahmen der Werkanalyse nur in ihrem Aufbau analysiert und hinsichtlich eines problematischen »tieferen Planes« diskutiert (U. Köpf). Die Schriften zum Ordensleben, die Predigten und Predigtreihen sowie Gelegenheitsschriften werden abschließend von M. Schlosser vorgestellt.
Die theologische Analyse des Werkes des Aquinaten ist dem Abschnitt »Themen« vorbehalten. Nach einer wissenschaftstheoretischen Verortung der Theologie (U. Köpf) werden Gotteslehre (N. Slenczka), Trinitätslehre (Ch. Schwöbel), Gottesbeweise (R. Rieger), Schöpfungslehre (D. Berger), Anthropologie, Gnade und Rechtfer-tigung (N. Slenczka), Theologische Ethik (St. Ernst), Christologie (I. Biffi), Sakramentenlehre (M. Schlosser) und Eschatologie (D. Berger) untersucht. Die meisten Untersuchungen, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden können, orientieren sich dabei an der Summa Theologiae, beziehen aber auch die Lehrentwicklung im Lauf seines Schaffens ein. Die Doktrin wird dabei nicht nur in sich, sondern meist auch im Hinblick auf fragwürdige oder überholte Deutungen diskutiert, wobei sich die konfessionelle Verbundenheit der Autoren durchaus erfreulich zeigt. So werden beispielweise schon in der Konzeption der Theologie der unklare Theologie-begriff, in der Gotteslehre die Probleme einer Übertragung des me-taphysischen Gottesbegriffs auf den jüdisch-christlichen Gott an­gesprochen. Gegen Verengungen im Gefolge K. Rahners kann in der Trinitätslehre gezeigt werden, wie für Thomas immanente und ökonomische Trinität, vor allem in der Schöpfung, zusammen-hängen. Reich differenziert ist auch die Darstellung der Anthropologie, Gnaden- und Rechtfertigungslehre durch N. Slenczka, wobei die konfessionelle Differenz in der Auffassung gerade Anlass ist, den genuinen Ort und Kontext der Lehre des Thomas von späteren Überformungen freizulegen. Die Eschatologie, nach dem Sentenzenkommentar und der Summa contra gentiles analysiert, rückt die Bedeutung der leiblichen Auferstehung und damit eines der zentralen Themen der Anthropologie in den Mittelpunkt.
Unter dem Stichwort »Strukturen« werden schließlich das doktrinelle und institutionelle Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Thomas (V. Leppin), die wissenschaftstheoretische Ein-stufung der Theologie in Abhebung von der Metaphysik und im Hinblick auf das Endziel des Menschen (N. Slenczka) und die didaktische Anlage der Summa Theologiae als »Anfängerlehrbuch« (U. Köpf) diskutiert.
Die Wirkung des Thomas von Aquin wird nur relativ kurz vorgestellt, indem seine Kanonisation (E. H. Füllenbach), die Auseinandersetzungen um seine Lehre im ersten Jahrhundert nach seinem Tod (P. Walter) und in der Reformation bei Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin (M. Wriedt), die Ausbildung einer thomistischen Schule seit dem 15. Jh., der Neuthomismus des 19./ 20. Jh.s und dessen Pluralität (P. Walter) dargestellt werden. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (455–496) und Registerwerk (497–523) macht den, von gelegentlichen Fehlern in lateinischen Texten abgesehen, sauber gearbeiteten und inhaltlich vorzüglichen Band gut benutzbar.
Dass sich bei so verschiedenen Autoren unterschiedliche Be­trachtungsweisen ergeben, ist natürlich. Auffallend ist allerdings, dass hinsichtlich derselben Gegebenheiten inhaltliche und terminologische Spannungen entstehen und erhalten bleiben (so 60 f. gegen 122 f. hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Benediktinerabtei Monte Cassino). Uneinheitlich ist die Terminologie bezüglich des sogenannten »lateinischen Averroismus« der Pariser Artistenfakultät um Siger von Brabant. R. Imbach spricht hier von »konsequenten Aristotelikern« (182–193), N. Slenczka von einem »häretischen Aristotelismus« (355), Th. Prügl von Averroismus (209), wie auch R. Schönberger Siger von Brabant als Averroisten einstuft (217). Diese kritischen Bemerkungen sollen den Wert des Werkes in keiner Weise schmälern, sie zeigen vielmehr die immer noch lebendige Diskussion um Thomas von Aquin, der über alle Konfessionen und Deutungsunterschiede hinweg die »Zentralgestalt der mittelalterlichen Theologie« (V) ist.