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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1043–1045

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Piotrowski, Nicholas G.

Titel/Untertitel:

Matthew’s New David at the End of Exile. A Socio-Rhetorical Study of Scriptural Quotations.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. XXIV, 316 S. = Novum Testamentum. Supplements, 170. Geb. EUR 125,00. ISBN 978-90-04-32678-1.

Rezensent:

Thomas Hieke

Schon die Eingangsworte von Nicholas G. Piotrowski lohnen sich, sie zu zitieren: »Matthew tells a story. To be more precise, the evangelist takes up an old story, interpretively retells it, and moves it forward. Beginning with the first sentence, the gospel writer invokes the suspended Old Testament narrative and uses it as scaffolding for the rest of his own story« (1). Für dieses Vorgehen des Matthäus, der seine Geschichte einer Gemeinde erzählt, die schon Jesus-Stoffe kennt und im »Alten Testament« verwurzelt ist, bietet P. einen Universalschlüssel zum Verständnis an. Dieser Schlüssel besteht in den Konzepten »neuer David« und »Ende des Exils« und wird im Verlauf der Erarbeitung mehrfach begründet.
Methodisch siedelt sich die Dissertation (Wheaton College, Be­treuer: Nicholas Perrin) im »socio-rhetorical criticism« an (2 u. ö.) – P. möchte also die Auswirkungen der literarischen Darstellung des Matthäusevangeliums, näherhin der so genannten »Erfüllungszitate«, auf die mutmaßliche matthäische Gemeinde untersuchen. Zugleich verwendet P. Ansätze wie die Konzepte des »Modell-Lesers« und der »kulturellen Enzyklopädie« von Umberto Eco (3) sowie das Paradigma der »Intertextualität«.
P. untersucht die »prologue-quotations«, also die (von der Forschung nicht sehr glücklich so genannten) »Erfüllungszitate« in Mt 1–4. Matthäus rufe mit diesen Zitaten, so die These von P., einen durchdringenden alttestamentlichen »subplot« auf: »David/ end-of-exile«. Mithilfe dieses Konzeptes verwirkliche Matthäus seine christologische und ekklesiologische Vision: Jesus sei der neue David, der »Israel« (und dazu seien alle zu zählen, die sich zu Jesus bekennen) aus dem Exil heimführe. Dazu muss man voraussetzen, dass es in der »kulturellen Enzyklopädie« der Zeit des Zweiten Tempels eine signifikante Strömung gab, die »Israel« trotz des Lebens im Land und des wiederaufgebauten Tempels dennoch als »im Exil« lebend ansieht (vor allem angesichts der Fremdherrschaft und des fehlenden Königtums). Dass es diese Ansicht in der frühjüdischen Literatur gab, weist P. im vierten Kapitel in einem Überblick nach.
Während die Einführung (Kapitel 1) mit einem forschungsgeschichtlichen Überblick und Bemerkungen zur Methode schließt, gehen die meisten Kapitel nach einem sehr gut nachvollziehbaren Muster vor: Es wird der nähere Kontext eines matthäischen Verses, der aus dem Alten Testament zitiert, untersucht und nach der narrativen Funktion des Zitats gefragt. Dann wird der Kontext der alttestamentlichen Stelle detailliert analysiert. P. macht sich mit Recht dafür stark, dass Matthäus nicht nur einen Vers herauspickt, sondern mit dem Zitat ein ganzes Konzept einspielt, das sich aus dem Kontext der alttestamentlichen Stelle ergibt. Sodann widmet sich P. der »conversation« zwischen Matthäus und diesem alttestamentlichen Konzept. »Summary and conclusion« schließen das Kapitel jeweils ab. Für P. ergibt der Blick auf den Inhalt der eingespielten Konzepte einen durchgehenden Erzählfaden, der zum Universalschlüssel wird: die Hoffnung auf einen »neuen David«, der dem »Volk« das »Ende des Exils« verkündet und in einem neuen Exodus aus der Gefangenschaft herausführt. Das »Volk« ist dabei letztlich jeder und jede, die oder der sich zu Jesus bekennt, mithin die nach außen durchlässige matthäische Gemeinde.
Leider kann aus Platzgründen hier nicht im Einzelnen auf jede »formula quotation« eingegangen werden. Ein kurzer Überblick muss genügen: Kapitel 2 (»The Effect of Isaiah’s Narrative World in Matthew 1:18–25«) befasst sich mit Jes 7,14, Kapitel 3 (mit nahezu gleichlautender Überschrift) mit Micha 5,1.3.
Am Ende der sehr guten Analyse ist eine kleine Unklarheit auf den Seiten 89 f. zu notieren, die m. E. auf einem Missverständnis beruht: »Leviticus 14:1–32 then gives instruction regarding ritual offerings if they are found to be ›unclean‹« (89) – das letzte Wort muss »clean« heißen, und dann kehrt sich die Argumentation um. Die Priester fungieren nach Lev 13–14 nie als »Heiler«, und die Rituale sind keine »Heilungsriten«, sondern sie zeigen lediglich die – wie auch immer – vorher erfolgte Heilung an. Insofern beansprucht Jesus, wenn er den Aussätzigen in Mt 8,1–4 heilt, keineswegs, ein Priester oder der Tempel zu sein, denn entscheidend ist nicht die »für ›rein‹-Erklärung« der menschlichen Institution, weil die automatisch nach der Vorschrift abläuft, sondern entscheidend ist die Heilung, die ein eschatologisches Zeichen Jesu ist, aber um die es in Levitikus nicht geht. Der ganze Abschnitt (89–91) ist für P.s These unerheblich.
Das schon erwähnte vierte Kapitel (»Exile and David in the Late Second Temple Cultural Encyclopedia«) behandelt die kulturelle Enzyklopädie der Spätzeit des Zweiten Tempels, in deren Literatur P. Spuren der Auffassung eines andauernden Exils und der Hoffnung auf dessen Beendigung findet. Daran könne, so P., Matthäus sehr gut anknüpfen. Das Muster der Überschrift von Kapitel 2 und 3 wird dann ab Kapitel 5 fortgesetzt, das Hos 11,1 und Jer 31,15 behandelt. Im sechsten Kapitel bietet P. eine ansprechende Deutung des rätselhaften Wortes »Er wird Nazoräer genannt werden« (Mt 2,23): Er führt es auf die prophetische Erwartung eines »Sprosses (hebräisch: nēzær) aus dem Hause Davids« (Jes 11,1 im Kontext von Jes 7–12) zurück. Die Kapitel 7 und 8 befassen sich erneut mit den intertextuellen Bezügen zu Jesaja (vor allem Jes 40,3 und 7,1–9,6). Im Kapitel 9 bietet P. eine Zusammenfassung sowie Schlussfolgerungen. Er fasst insbesondere die Argumente zusammen, die dafür sprechen, dass »new David« und »end-of-exile« eine kohärente Interpretation des Textes sei, die auch der Intention des historischen Autors entspreche (»historically plausible«, 235).
Die Darstellung P.s ist sehr stringent und schlüssig aufgebaut, sie liest sich flüssig und ist aufgrund der klaren Systematik her-vorragend nachvollziehbar. Besonders überzeugend ist, wie immer wie­der deutlich wird, dass der Text des Matthäusevangeliums nicht einfach alttestamentliche Versatzstücke als »Spolien« oder Dekoration aufgreift, sondern mit bestimmten Zitaten dezidiert ganze Konzepte in den eigenen narrativen Faden als essentielle Bausteine an tragenden Stellen einbaut. Die Kenntnis dieser alttestamentlichen Zusammenhänge wird beim Modell-Leser vorausgesetzt. Die von P. vorgeschlagene Leseweise der »prologue-quotations« ist von hoher »coherency and cogency« (232) und die derzeit aktuellste und literaturwissenschaftlich sehr schlüssig erarbeitete Deutung. Die Rückschlüsse auf eine historische Autorenintention sind vorsichtig. P. stellt plausible Vermutungen über den Effekt auf die matthäische Gemeinde in den Vordergrund (im Sinne seiner »socio-rhetorical method«). Das Buch wird von einer sehr ausführlichen Bibliographie (42 Seiten!) und einem ebensolchen Stellenregister abgerundet. P.s Studie bringt ganz viel Licht in den Inhalt, die Konzeption und die Wirkung der Schriftzitate am Anfang des Matthäusevangeliums. Für die weitere Arbeit am ersten Evangelium und an den vielfältigen Verknüpfungen des Neuen Testaments mit dem Alten Testament ist dieser Beitrag unverzichtbar.