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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1041–1043

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marguerat, Daniel

Titel/Untertitel:

Les Actes des apôtres (1–12).

Verlag:

2. Aufl. Genève: Labor et fides 2015 (1. Aufl. 2007). 446 S. = Commentaire du Nouveau Testament, V a. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-2-8309-1573-0.

Rezensent:

Wilfried Eisele

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Marguerat, Daniel: Les Actes des apôtres (13–28). Genève: Labor et fides 2015. 394 S. = Commentaire du Nouveau Testament, V b. EUR 45,00. ISBN 978-2-8309-1568-6.


Annähernd 90 Jahre nach Eugène Jacquier (1926) liegt nun erstmals wieder ein großer wissenschaftlicher Kommentar zur Apg in französischer Sprache komplett vor. Im Vorwort zum zweiten Band erinnert der evangelisch-reformierte Theologe Daniel Marguerat selbst an seinen römisch-katholischen Vorgänger und ruft dadurch die Wege und Irrwege – nicht nur – der Apg-Forschung während eines ganzen Jahrhunderts ins Bewusstsein. Beider Werke unterscheiden sich grundlegend, was nicht zuletzt den Zeitumständen geschuldet ist. In seiner Rezension zu Jacquiers Kommentar verwies Martin Dibelius auf die dogmatischen Vorgaben der Päpstlichen Bibelkommission vom 12. Juni 1913 (DH 3581–3586), die dem katholischen Exegeten damals ein unvoreingenommenes Urteil in den historischen Fragen zur Apg unmöglich machten (ThLZ 54 [1929], 79 f.). Davon war und ist sein evangelischer Kollege selbstverständlich frei.
Umso bemerkenswerter ist es, dass beide Kommentare bei der Quellenkritik, welche die Apg-Forschung lange Zeit intensiv be­schäftigte, ähnlich zurückhaltend sind. Was Dibelius an Jacquier kritisierte, würde somit auch M. wieder treffen: »Allen quellenkritischen Analysen gegenüber verhält er sich sehr vorsichtig; andrerseits nimmt er eine Mehrheit von Quellen an, schon um den sehr verschiedenartigen Charakter von Stil und Sprache der Apg. erklären zu können; aber der Beobachter des Stils findet doch nicht den Mut, aus den stilistischen Unterschieden mit entschlossener Kritik den Anteil der Tradition und den Anteil des Autors zu erschließen.« Zwischenzeitlich sind viele Versuche unternommen worden, eine literarkritisch saubere Quellenscheidung in der Apg durchzuführen. Nachdem alle letztlich gescheitert sind, muss das Urteil anders ausfallen: Was der frühere Rezensent als träge Mutlosigkeit tadelte, muss der heutige als umsichtige Klugheit loben. Mit Resignation hat das nichts zu tun, sondern mit vertiefter Einsicht in die literarische Qualität der Apg: Der auctor ad Theophilum hat sich sein Quellenmaterial derart gründlich angeeignet und es schriftstellerisch so nahtlos verarbeitet, dass die Quellen aus seinem Text nicht mehr herauszulösen sind. Entsprechend geht M. von einem einzigen Verfasser der Apg aus und trifft sich darin mit Jacquier, ohne freilich dessen dogmatische Voraussetzungen zu teilen, sondern allein aufgrund seiner eigenen kritischen Lektüre des Textes.
Damit stellt sich der Kommentator nicht nur dem Eigensinn des Textes, sondern auch der Eigenwilligkeit von dessen Autor. Zwar bekennt sich M. zur Subjektivität seiner Lektüre, nimmt diese aber nicht als Freibrief für jede beliebige Art der Auslegung, sondern nur für eine solche, »dont il estime qu’elle prend en compte et valorise l’intention de l’auteur telle qu’il la perçoit« (a: 7). Eine stichhaltige Auslegung ergibt sich demnach aus der Wechselwirkung von rezeptions- und produktionsästhetischen Aspekten. Natürlich kennt der Exeget nicht die Absicht, welche die historische Person des Verfassers mit ihrem Werk verfolgte. Aber er kann aus der Wirkung des Textes auf die implizite Leserschaft auf eine entsprechende Wirkabsicht zumindest des impliziten Autors schließen, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht. Narratologische und historisch-kritische Analysen schließen sich deshalb für M. nicht aus, sondern ergänzen sich wechselseitig zu einem angemessenen Verständnis der Apg, die zwar eine ganz bestimmte Erzählung fingiert, sich dabei aber auf mehr oder weniger zuverlässige historische Erinnerungen stützt. Der dramatische Episodenstil, den Eckhard Plümacher der Apg bescheinigte, lässt sie keineswegs zum Abenteuerroman werden, sondern dient ihr auch M. zufolge als Mittel, um historische Entwicklungen erzählerisch in paradigmatischen Szenen zu veranschaulichen.
Wie in der antiken Geschichtsschreibung üblich, wird das er­zählte Geschehen der Apg von ihren Protagonisten in längeren Reden gedeutet. Dass es sich dabei nicht um tatsächlich so gehal-tene, sondern um durch und durch fingierte Reden handelt, gilt inzwischen als ausgemacht. Allerdings hat man noch lange ur­christliche Predigtschemata als Vorlagen für diese Reden vermutet und zu rekonstruieren versucht. Leitend waren dabei inhaltliche Kriterien, die freilich kaum mehr als die schlechthinnigen Eck-daten des christlichen Kerygmas hervortreten ließen: »Jésus que vous avez fait mourir – il a été relevé par Dieu – nous en sommes les témoins« (Bd. 1, 23). Im Unterschied dazu analysiert M. die Reden der Apg nach den formalen Regeln der antiken Rhetorik, was sich insbesondere für die Gliederung der Reden und die Bestimmung der pragmatischen Funktion ihrer einzelnen Teile als nützlich und angemessen erweist. Anstatt Quellen und Schemata zu eruieren, unterstreicht M. die Freiheit des Geschichtsschreibers beim Verfassen solcher Reden, solange sie der Person des Redners und seiner Situation angemessen sind, und zitiert Thukydides (1,22,1) mit seinem berühmten Grundsatz herbei: »J’ai exprimé ce qu’à mon avis ils auraient pu dire qui répondît le mieux à la situation« (ebd. 23).
Die Einleitungsfragen beantwortet M. mit der breiten Mehrheit der Forschung: Die Apg stamme von demselben Autor wie das Lukasevangelium und sei wenig später als dieses zwischen 80 und 90 außerhalb von Palästina entstanden. Der Verfasser des Doppelwerkes sei ursprünglich Heide gewesen, der entweder als »Proselyt« zum Judentum konvertiert sei oder zumindest als »Gottesfürchtiger« mit der jüdischen Religion sympathisiert und sie in der Synagoge gründlich kennengelernt habe. Umgekehrt habe er weder Paulus noch seine Briefe unmittelbar gekannt, sondern biographische Erinnerungen an den Völkermissionar, wie sie in den paulinischen Gemeinden umliefen, in der Apg verarbeitet. Sein zweites Werk sei ein Versuch, den Bruch zwischen Kirche und Synagoge trotz ihrer grundlegenden Gemeinsamkeiten zu erklären. Im Verhältnis zum römischen Reich und seiner heidnischen Mehrheitsgesellschaft werbe die Apg mehr bei den Christen um die Bereitschaft zur Integration als bei den Heiden um die Anerkennung der christlichen Lebensweise.
M.s Kommentar bietet alles, was man berechtigterweise von einem solchen Werk erwarten darf. So kurz wie möglich und so ausführlich wie nötig erschließt er den Text literarisch und gibt nützliche Sachinformationen zu seinem Verständnis. Er hütet sich vor Einseitigkeiten und sucht in allem ein ausgewogenes Urteil. Auf diese Weise wird er sowohl der Apg als Erzählung als auch ihrem historischen und theologischen Anspruch gerecht. Bei allem notwendigen Augenmerk aufs Detail verliert er doch das Ganze der Apg und des lukanischen Doppelwerkes nie aus dem Blick, sondern bietet eine in sich kohärente Lektüre. Dazu tragen wesentlich die Exkurse bei, die sich als »Encadré« fast bei jeder Perikope finden und übergreifende Themen der lukanischen Theologie, literarische Eigenheiten, traditionsgeschichtliche Hintergründe oder historische Gegebenheiten erklären. Schließlich erweist sich M. der Größe seiner Aufgabe auch dadurch gewachsen, dass sein Eifer nicht auf halber Strecke erlahmt, wie es bei Apg-Kommentaren sonst häufig der Fall ist, die viel Mühe auf die ersten fünfzehn Kapitel verwenden und sich danach in wenig aufschlussreichen Nacherzählungen dessen erschöpfen, was man im Text selbst bereits besser und spannender lesen kann. Dagegen schlägt man M.s Kommentar an keiner Stelle auf, ohne im besten Sinne belehrt zu werden. Im deutschsprachigen Raum gibt es Vergleichbares aus neuerer Zeit leider nicht. Umso nachdrücklicher sei allen nun Marguerat zur Lektüre empfohlen!