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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1033–1035

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Czachesz, István

Titel/Untertitel:

Cognitive Science and the New Testament. A New Approach to Early Christian Research.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2017. 288 S. Geb. US$ 95,00. ISBN 978-0-19-877986-5.

Rezensent:

Lukas Bormann

István Czachesz ist seit 2016 Professor für Bibelwissenschaften an der University of Tromsø, Norwegen. Er hat die kognitionswissenschaftliche Forschung zum Neuen Testament, die etwa seit einer Dekade betrieben wird, von Anfang an mitgestaltet. Diese Forschungsrichtung, zu deren Vertretern auch P. Luomanen, R. Uro und G. Theißen gehören, wendet die Ergebnisse der empirisch und experimental orientierten kognitionswissenschaftlichen Religionsforschung (Cognitive Science in Religion) auf die Jesusbewegung und das frühe Christentum an. Dabei stellen sich grundlegende wissen schaftstheoretische Fragen. Die neutestamentliche Wissenschaft und die Kognitionswissenschaft haben bisher recht divergierende Vorstellungen davon, was es heißt, einen Sachverhalt zu erklären. Die Kognitionswissenschaft versteht menschliches Verhalten als Anwendung von im Gehirn und im Bewusstsein verankerten Handlungsmodellen, die sich evolutionär und kulturell ausgebildet ha­ben. Dieses Muster wird auch auf religiöse Praktiken und An­schauungen angewendet. Religiöse Phänomene gelten somit dann als erklärt, wenn ihre Funktionen für die evolutionär vorteilhaften Um­weltanpassungen bestimmt sind. Die philosophischen und theologischen Aussagen des Neuen Testaments, etwa zu Sünde, Rechtfertigung und Erlösung, werden demnach nicht darauf befragt, ob sie angemessene Antworten auf Sinn- und Existenzfragen des Menschen sind, sondern darauf, ob sie etwas zur Bewältigung der Um­weltherausforderungen, denen sich der Mensch als Gattungswesen ausgesetzt sieht, beitragen. Diese unterschiedlichen Perspektiven sollte man sich deutlich vor Augen halten, wenn man das zu besprechende Werk mit Gewinn lesen möchte.
Die zehn Kapitel des Buches stellen die grundlegenden Debat-ten und Ergebnisse der kognitionswissenschaftlichen Religionsforschung dar. Die Einführung (1–7) gibt einen kundigen Forschungsüberblick über die Entwicklung der Kognitionswissenschaften seit den 1950er Jahren. Kapitel 1 »Cognitive Turn« beschreibt die Bedeutung der Hinwendung der neutestamentlichen Wissenschaft zu den Kognitionswissenschaften. Der Vf. identifiziert fünf Forschungsgegenstände, für deren Verständnis kognitionswissenschaftliche Analysen besonders relevant seien: 1. Die wechselseitige Beeinflussung von neutestamentlichen Texten und mentalen Prozessen, 2. Die diachrone Textentwicklung als evolutionärer Prozess, 3. Die kognitive Funktion von Textgattungen (Synchronie), 4. Die erfolgreiche Verbreitung neutestamentlicher Texte, 5. Die Ausbildung von Kanonizität und Heiligkeit von Texten.
In den Kapiteln 2 und 3 zu »Evolution« und »The Human Brain: A Guided Tour« werden die Grundlagen der Kognitionswissenschaften skizziert. Dabei wird bereits deutlich, dass Religion in den kognitionswissenschaftlichen Diskursen sehr unterschiedlich be­wertet wird, nämlich entweder als konstruktiver Teil evolutionärer Umweltanpassung oder als zufälliges Nebenprodukt oder auch als geradezu schädlicher Virus.
Die weiteren Kapitel 4–10 gehen näher auf neutestamentliche Fragestellungen ein. Kapitel 4 »Memory and Transmission« stellt fest, dass das Neue Testament in seiner Entstehung und parallel zu seiner Verschriftlichung auf der mündlichen Weitergabe episodischer Erzählungen beruht habe. Kapitel 5 »Ritual« erläutert die Funktionen von Beten, Fasten, Taufe und gemeinsamem Mahl für die Stärkung der sozialen Kooperationsbereitschaft innerhalb der neu entstehenden Religionsgemeinschaft. Kapitel 6 »Magic and Miracle« erklärt den Erfolg der neutestamentlichen Wundergeschichten durch ihre Übereinstimmung mit dem kognitiven Akteur-Tat-Schema (»agentive reasoning«). Ihre maßvolle Kontraintuitivität und Emotionalität hätten zusätzlich zum Erfolg dieser Überlieferungsformen beigetragen. Kapitel 7 »Religious Ex­perience« befasst sich mit normalen wie auch extremen religiösen Erfahrungen und den Möglichkeiten, diese bestimmten Hirnregionen zuzuweisen. Extreme religiöse Erfahrungen wie Visionen und Himmelsreisen seien mit den Forschungsergebnissen zu außerkörperlichen Erlebnissen, Nahtoderfahrungen und Halluzinationen zu erklären. Es handele sich demnach etwa bei apokalyptischen Visionsberichten oder bei der Schilderung der Himmelsreise in 2Kor 12,1–4 nicht um rein literarisch vermittelte Schreibtischprodukte. Diese Texte beruhten vielmehr auf extremen religiösen Erfahrungen, die allerdings in kulturell gebundenen Ausdrucksformen kommuniziert würden. Kapitel 8 »Morality« definiert Mo­ralität als Aspekt menschlicher Kognition und menschlichen Verh altens. Empathie und Perspektivität der Wahrnehmung von Verhalten seien grundlegend für Moralität. Auch altruistische Moralität wie die Forderung der Feindesliebe sei für die Ausbildung sozialer Kooperationsbereitschaft bedeutsam. Die Gottesvorstellung fördere womöglich die Anpassung des Menschen an seine Umwelt und sei vielleicht sogar für die Ausbildung größerer Ge­meinschaften wie Stadtstaaten evolutionär notwendig gewesen (»›big god‹ hypothesis«). Das Christentum beruhe ebenfalls auf »schwachen sozialen Bindungen« jenseits von Familie, Verwandtschaft und Ethnie, was zur Erklärung seiner Ausbreitung beitrage (189). Kapitel 9 »Social Networks and Computer Models« stellt ein Modell für die Ausbreitung des Christentums vor. Auf der Basis von fünf Parametern (Missionsziel, Konversionsgeschwindigkeit, Lernstrategien der Adressaten, Zahl der Apostel, Prestige der Missio-nare) wird u. a. gezeigt, dass die Anzahl der Apostel in der Anfangsphase der Mission bedeutsam gewesen sei, während späterhin eher Nachbarschaftseinflüsse gewirkt hätten. Das Schlusskapitel 10 »Hermeneutical Reflections« befasst sich mit der Bibel als kogni­-tivem Medium. Die neutestamentlichen Texte könnten auf drei Weisen gelesen werden: Als »Fenster« zu einer vergangenen Wirklichkeit, als »Spiegel«, in denen sich ihre Leser wiederentdeckten, oder als »Bild«, das unabhängig von Interpretation und Rekonstruktion Informationen weitergebe. Die Bibel sei in Analogie zur DNA letztlich als Replikator zu verstehen, der je nach evolutionären und kulturellen Umweltbedingungen auf der Basis einer inneren Logik einige Informationen aktiviere und andere nicht.
Der Vf. legt den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Er­läuterung des kognitionswissenschaftlichen Zugangs. Er vermag an vielen Beispielen deutlich zu machen, welchen Beitrag kognitionswissenschaftliche Analysen zum Verständnis des Neuen Testaments und des frühen Christentums zu leisten vermögen. So werden etwa Fragen nach der Plausibilität von Verhaltensweisen, die im Neuen Testament geschildert werden, und nach ihren Funktionen für die Behauptung der Jesusbewegung in ihrer Umwelt auf neue Weise beantwortet. Die skizzierten Inhalte machen deutlich, dass der kognitive Ansatz die Möglichkeit bietet, empirische und geisteswissenschaftliche Forschungen auch in der neutestamentlichen Wissenschaft jenseits hergebrachter Grenzziehungen zueinander in Beziehung zu setzen. Das nach wie vor ungelöste Rätsel, warum ausgerechnet das Christentum sich so erfolgreich durchsetzen konnte, während fast alle übrigen antiken Religionen aufgehört haben zu existieren, bedarf auch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung. Bei der Beantwortung der Frage, welchen A nteil die neutestamentlichen Texte an diesem Prozess hatten, wird man kognitionswissenschaftliche Erklärungsmodelle be­rücksichtigen müssen. Das besprochene Werk stellt auf diesem Weg einen wichtigen Meilenstein und einen zuverlässigen Orientierungspunkt für weitere Forschungen dar. Hilfreiche Indizes erschließen den Inhalt des Buches.