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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1031–1033

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bockmuehl, Markus

Titel/Untertitel:

Simon Peter in Scripture and Memory. The New Testament Apostle in the Early Church.

Verlag:

Grand Rapids: Baker Academic 2012. XVII, 223 S. Kart. US$ 26,00. ISBN 978-0-8010-4864-7.

Rezensent:

Thomas Söding

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bockmuehl, Markus: The Remembered Peter. In Ancient Reception and Modern Debate. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIII, 263 S. m. Abb. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 262. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150580-5.


So viele Bücher über Paulus geschrieben werden, so wenige über Petrus. Das ist ebenso erklärlich wie verblüffend. Denn die kirchengeschichtliche Bedeutung des Petrus ist sicherlich größer als die des Paulus; seine Geschichte mit Jesus beginnt früher; in der Apostelgeschichte ist er der Held der ersten Hälfte, während Paulus erst nach ihm die Bühne betritt. Aber im Gegensatz zu Petrus hat Paulus einen theologischen Kosmos geschaffen, der bis heute Leben in sich trägt. Dreizehn Briefe werden ihm zugeschrieben, mindestens sieben dürften auf ihn selbst zurückgehen, während es von Petrus nur zwei Briefe im Kanon gibt, die beide in ihrer Verfasserschaft, vorsichtig formuliert, fraglich sind. Vor allem jedoch steht d ie gesamte kanonische Petrusüberlieferung im Feuer der histo-rischen Kritik: das Felsenwort sei nicht echt, das Spiel mit dem Petrusnamen funktioniere nur auf Griechisch; die Apostelgeschichte heroisiere den Apostel; die Petrusbriefe verwischten seine Biographie; selbst die Überlieferung vom Tod des Petrus in Rom sei eher legendarisch als historisch. Der Verdacht kommt auf, die Hermeneutik des Verdachtes sei selbst ein wenig verdächtig, weil allzu viel Aufwand getrieben wird, die römisch-katholischen Besitzansprüche abzuweisen. Aber die Debatte über den »un­terschätzten« Apostel (Martin Hengel) scheint ein wenig festgefahren.
Ein neuer methodischer Ansatz tut not. Markus Bockmuehl (Oxford) hat ihn entwickelt. Er greift die neueren Ansätze der Gedächtnisgeschichte auf, begnügt sich aber nicht damit, die Baugesetze und Prozesse von Identitätskonstruktionen zu beschreiben, sondern interessiert sich für die Vielfalt und die Lebendigkeit einer Memorialtradition, die über Personen läuft. Aus diesem Grund zieht er methodisch Zeugnisse aus dem 2. Jh. heran. Die Suche nach ipsissima verba et facta Petri tritt zurück; aber die Überlegung, wie die Galerie facettenreicher Petrusbilder hat entstehen können, die noch heute gerne besucht wird, verlangt die volle Aufmerksamkeit.
In seinem Erinnerungsbuch nimmt B. einige ältere Arbeiten auf und schafft eine neue Komposition. Teil 1 befasst sich mit methodologischen Fragen. Kapitel 1 konzentriert sich auf das Verhältnis von Geschichte und Erinnerung (1–30); Kapitel 2 markiert Fehlstellen und Ansatzpunkte der neueren Forschung zwischen Jesus und Paulus (31–60), Kapitel 3 vergleicht rezeptionsgeschichtlich Petrus und Paulus (61–70). Teil 2 wirft ein Licht auf Syrien und Rom, wo traditionell auch, so oder so, das Markusevangelium lokalisiert wird, das mit Papias indirekt auf Petrus zurückgeführt wird. Kapitel 4 liest die Spuren des Petrusgedächtnisses bei Ignatius, Justin und Serapion (71–93); Kapitel 5 untersucht – mit bemerkenswert nüchternem Ergebnis – den paulinisch-petrinischen Gegensatz im Brennglas der Pseudo-Klementinen (95–113), Kapitel 6 eruiert die Überlieferung vom Tod des Petrus in Rom (114–152) – aufgrund des Erscheinungsjahres zwar mit Verweisen auf Otto Zwierleins neue Skepsis, aber noch ohne Aufnahme der von Stefan Heid versammelten Gegenkritik. Teil 3 untersucht die Erinnerungen an Petrus’ Zukunft. Kapitel 7 markiert seine Namen – Simon Barjona, Kephas, Petrus – in jüdischen Quellen (135–157), Kapitel 8 bringt ihn mit Bethsaida zusammen (188–187), und das abschließende Kapitel 9 re­konstruiert seine Konversion im Gedächtnis späterer Zeit (188–204).
In der etwas jüngeren Monographie gibt er zuerst einen guten Überblick über die kanonischen Referenzen (1–33) und skizziert dann die im Osten und im Westen unterschiedlich verlaufenden Traditionslinien der beiden ersten Jahrhunderte (35–150). Matthäus und Johannes werden dem Osten, Lukas und Markus dem Westen zugeordnet. Diese rezeptionsgeschichtliche Studie, die eine tiefe Kenntnis der neutestamentlichen und patristischen Quellen bezeugt, kommt zu dem Urteil, dass es »the prince of the apostles« gewesen sei, der allein die Brücke zwischen der paulinischen Heidenmissionsexpansion und der Jerusalemer Urgemeinde gehalten habe (150) – ein pontifex also, wie er im Buche steht. In zwei Schlusskapiteln wird nachgezeichnet, wie die zweifache Bekehrung des Petrus beschrieben wird: die nach seiner Verleugnung Christi und die frühere am See, dass der Menschenfischer auf die grande tour der Mission geschickt wird.
Beide Bücher sind äußerst lehrreich und lesenswert. Sie zeigen, wie wenig die Kanongrenzen als Forschungsbarrieren wirken dürfen, was sie aber oft genug tun. Sie lenken die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Vor- und die Seiten-, sondern auch auf die unmittelbare Nachgeschichte des Neuen Testaments und weisen nach, wie viel daraus für die Exegese zu gewinnen ist. Genannt seien nur die Forschungen zu den Namen und zum Ort Bethsaida (den er mit el-Tel zusammenbringt), die aufgrund der neutestamentlichen Quellentexte gar nicht erfolgen könnten, für ihre Erklärung aber große Bedeutung haben. Methodisch besteht der große Gewinn darin, dass die Kategorie der »lebendigen Erinnerung«, wie sie unter den Bedingungen der Antike gepflegt worden ist, nicht nur eine abstrakte Möglichkeit bleibt, sondern eine konkrete Form findet, den Blick für das zu schärfen, was – schwer zu erkennen – Ereignis gewesen ist und – gut zu verfolgen – Geschichte gemacht hat. Es wird deutlich, an wie vielen Stellen und in wie vielen Brechungen Petrus Eindruck hinterlassen hat. Eine Fixierung auf die römische Rezeption wird dadurch elegant ausgehebelt – und ein neuer Zu­gang zu ihr geöffnet. Die gewählte Methode erlaubt es, aus reinen Ja-Nein-Entscheidungen bezüglich der Historizität herauszufinden und die Kreativität der Erinnerung stärker zu würdigen, die sich gerade aus ihrem Bezug auf Ereignisse entwickelt. Der angebliche Grundkonflikt zwischen Petrus und Paulus, den weiland Ferdinand Christian Baur hochstilisierte, wird bei B. nicht geglättet, aber auf ein Normalmaß reduziert.
An Einzelheiten kann man Kritik üben: dass die Paulusbriefe teils dem Osten (Gal), teils dem Westen (1Kor) zugeordnet werden, obgleich sie doch einen und denselben Autor haben, der, innovativ genug, auf einer Ost-West-Passage sich befindet; dass der Erste Petrusbrief dem Westen, der Zweite aber dem Osten zugeordnet wird, obgleich er sich auf den Ersten bezieht. B. ist mit den allermeisten evangelischen und inzwischen auch katholischen Exegeten der Meinung, dass in Mt 16,18 ff. kein Nachfolger Petri intendiert wäre (85 f.). Darüber würde eine intensivere Diskussion lohnen. Denn so wenig Mt 16 von Mt 18 getrennt werden kann, bleibt doch für die Gemeinschaft der Apostel, mit der die Kirche beginnt und auf die sie permanent bezogen bleibt, die besondere Rolle Petri prägend. Deshalb steht die Frage, wer den Petrusdienst des Bindens und Lösens in der communio der Apostel und derer, die sich in ihrer pastoralen Nachfolge sehen, ausübt, im Raum – und wird von dem Zeitpunkt an, da überhaupt erst, nach Konstantin, eine offenkundige Katholizität historisch denkbar wird, alternativlos vom Bischof von Rom beansprucht, mit Berufung auf das Grab des Apostels Petrus wie des Apostels Paulus. Das Schweigen der Quellen in der Zwischenzeit begründet allenfalls ein argumentum e silentio. Die Petrustradition doch stärker mit dem Petrusdienst zu verknüpfen, als B. es mit der großen Mehrheit der Exegese macht, hat den großen Vorteil, die Überzeichnungen, die Monopolisierungen, die Verabsolutierung des Papsttums exegetisch aufbrechen – und nicht einfach nur kontrafaktisch negieren zu können.
Die beiden Petrusbücher aus Oxford bereichern die exegetische Forschung: historisch und theologisch, exegetisch und rezeptionsästhetisch. Sie zeigen, wie wenig eine »lebendige Erinnerung« durch historische Ereignisse gedeckt zu sein braucht, weil die Rezeption selbst Geschichte schreibt, und wie sehr sie eben deshalb an Dynamik gewinnt, wenn die Traditionsspuren genau gelesen werden.