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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1029–1031

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Macchi, Jean-Daniel

Titel/Untertitel:

Le livre d’Esther.

Verlag:

Genf: Les Éditions Labor et Fides 2016. 592 S. = Commentaire de l’Ancien Testament. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-2-8309-1598-3.

Rezensent:

Veronika Bachmann

Mit seiner knapp 600-seitigen Monographie legt der Genfer Alttestamentler Jean-Daniel Macchi mehr als einen Kommentar zum masoretischen Estherbuch und – sehr knapp gehalten (513–544) – zu den sogenannten Esther-Zusätzen vor, also Teilen der Septuaginta-Fassung (LXX), die nach protestantischer Tradition zu den Apokryphen zählen. M. präsentiert damit zugleich eine Zusammenschau seiner langjährigen Forschungsarbeiten zur frühen Estherliteratur. Dass das Hauptgewicht auf der hebräischen Es-therbuchfassung liegt, entspricht dem protestantischen Hintergrund M.s und der Reihe. Der Kommentar wird in gekürzter Form und ins Englische übersetzt auch in der Reihe International Exegetical Commentary on the Old Testament (IECOT) erscheinen, angekündigt auf das 2. Halbjahr 2017.
Bereits in den zahlreichen Publikationen, die als Vorarbeit zum Kommentar entstanden sind, hat sich abgezeichnet, dass M. eine dezidierte Meinung zur Textgeschichte hat, die auch seine redaktionsgeschichtlichen Thesen prägt. Prominenten angelsächsischen Positionen folgend postuliert er eine Proto-Esther-Fassung, die er älter einschätzt als den masoretischen Text. Im Kommentar präsentiert er seine eigene Rekonstruktion dieser Fassung. Wie bereits andere vor ihm nimmt er dazu den griechischen Alpha-Text zur Grundlage, also die zweite neben der LXX-Version überlieferte griechische Textfassung. Eigenständige Wege geht er, indem er Proto-Esther im ptolemäischen Alexandria verortet (Mitte 3. bis Anfang 2. Jh. v. Chr.), den (proto-)masoretischen Text als eine stark bearbeitete Fassung davon erst in die makkabäisch-hasmonäische Zeit datiert, konkret in die zweite Hälfte des 2. Jh.s v. Chr., und als dessen Entstehungsort keine Diasporaregion in Betracht zieht, sondern von einer Bearbeitung in Judäa ausgeht. Das Bemühen um eine Rekonstruktion von Proto-Esther, die vergleichsweise späte Datierung des (proto-)masoretischen Textes – noch immer datiert man ihn in der Forschung gerne in die spätpersische oder frühhellenistische Zeit – sowie die These, dass die (proto-)masoretische Fassung einem judäischen und keinem Diaspora-Milieu entstammt, prägen den Aufbau und die inhaltliche Schwerpunktsetzung des Kommentarbandes wesentlich mit.
Im Einleitungsteil (11–148) bietet M.s Kommentar die wichtigsten Informationen zum Textbefund, eine ausführliche Darlegung seiner eigenen text- und redaktionsgeschichtlichen Thesen und einen längeren Abschnitt zu den literarischen Eigenheiten der masoretischen Textfassung (Gattung, Sprache, Bezüge zu anderen Bibeltexten, Hauptthemen). Für eine Datierung der protomasoretischen Fassung in die makkabäisch-hasmonäische Zeit führt M. vor allem inhaltliche Bezüge zu den Makkabäerbüchern ins Feld. Während die ironische Beschreibung der persischen Regierungsverhältnisse gut zum »contexte intellectuel très anti-impérial de la période maccabéenne« (65) passe, seien das im Haman-Edikt ge­nannte Datum des Ausrottungstages (13. Adar) und die Kampfschilderungen im Schlussteil des Buches als bewusste Anspielung auf den in 1Makk 7 und in 2Makk 15 beschriebenen Sieg über den feindlichen Seleukidenanführer Nikanor zu verstehen, was den propagandistischen Zug des (proto-)masoretischen Textes unterstreiche. Auf textpragmatischer Ebene gewichtet M. diesen propagandistischen Zug stark. Mit dieser neuen Textfassung habe man der Diaspora-Bevölkerung den nationalistisch-hasmonäischen Nikanor-Festtag im Kleid eines älteren Festes beliebt machen wollen (74–75.80–81.464–468).
Neben dem starken Fokus auf die eigene text- und redaktionsgeschichtliche Position macht sich M. in der Einleitung dafür stark, im Estherbuch ein jüdisches Pendant zur prominenten hellenistischen Persika-Literatur zu sehen, also zur Literatur, die sich aus einer Fremdperspektive der Beschreibung persischer Herrschaftsverhältnisse widmet. Damit würdigt er Esther als Schrift mit kulturellem Integrationsfaktor. Wie andere Bücher, die dann biblisch zu den Ketubim gezählt wurden, zelebriere es das Bildungsniveau des jüdischen Verfasserkreises. Die Einleitung wird abgeschlossen durch eine kurze literarische Charakterisierung der rekonstruierten Proto-Esther-Fassung und der griechischen Versionen, durch Ausführungen zu den unterschiedlichen Zeitangaben in den Textversionen, durch Hinweise zum Kanonisierungsprozess sowie einen knappen Blick auf die Rezeption des biblischen Buches innerhalb des Judentums und des Christentums.
Der Kommentarteil (149–511) vertieft die Zuordnung des Esterbuches zur Persika-Literatur, indem M. bei gewissen Passagen, etwa wenn es in Est 5 um die Rolle von Esther als persischer Königin geht, die griechisch-hellenistische Persika-Literatur auf Mo-tivverwandtschaften abklopft, was interessante Parallelen zutage bringt. Auch die redaktionsgeschichtlichen Thesen bleiben wichtig. So folgt der Kommentierung eines jeden Estherbuchkapitels – die Schlusskapitel 8–10 nimmt M. zusammen – eine Darstellung des Redaktionsprozesses, wie ihn der Autor postuliert. Am ausführlichsten kommt dabei zur Sprache, wie die protomasoretische Redaktion Proto-Ester umgearbeitet haben soll. Dieser Kommentarteil präsentiert auch konsequent M.s Proto-Esther-Rekonstruktion in französischer Übersetzung. Zusammengenommen böten alleine diese Kommentarkapitel den Hauptteil einer Monographie zu M.s text- und redaktionsgeschichtlichen Thesen.
Es ist solides exegetisches Handwerk, das man mit M.s Estherbuchkommentar vorgeführt bekommt. Obwohl er in gewissen Zusammenhängen ausdrücklich mahnt, man solle sich exegetisch nicht in zu spekulative Gedankenmanöver verirren, outet er sich selbst als Exeget, der seine Thesen optimistisch auf Textrekonstruktionen aufbaut. Die enge Verschränkung zweier Anliegen, (a) im Rahmen des Fachdiskurses eigene Thesen zu präsentieren und (b) ein biblisches Buch zu kommentieren, macht den Kommentar reich, dürfte aber insbesondere einem breiteren Publikum die Konsultation des Kommentars erschweren. Die Beharrlichkeit, mit der M. seine Position zum Teil bis in kleinste Details durchdekliniert, ist aus fachlicher Sicht zu würdigen. Dies im Rahmen eines Kommentars zu tun, birgt die Gefahr, dass dem Lesepublikum Aspekte vorenthalten werden, die nicht zur Position passen, die begründet werden soll. So erstaunt es beispielsweise, dass M. Bezüge zu prophetischer oder weisheitlicher Literatur kaum oder gar nicht er­wähnt. Kühne Visionen von Fremden, die im Israelitisch-Judäischen Wahrhaftigkeit erkennen (vgl. das Stichwort »Judaisierung« in Est 8,17), oder auch das konsequente erzählerische Umsetzen der Idee der Umkehr von Verhältnissen (vgl. den Verteidigungskampf in Est 9, der zum Tod der Angreifer führt) treten nicht erst in Texten aus makkabäisch-hasmonäischer Zeit auf. Offen bleibt zum B eispiel, warum es so klar sein soll, dass die östliche Diaspora als Abfassungsort einer ältesten Version ausscheidet (vgl. hierzu knapp und wenig stichhaltig 68, Anm. 174), oder auch, warum jemand gerade in makkabäisch-hasmonäischer Zeit Gott konsequent aus einer Erzählversion gestrichen haben wollte – nach M. sprach Proto-Ester noch explizit von Gott. Andere Texte aus dieser Zeit führen vor, dass eine Erwähnung Gottes die Betonung, dass tatkräftiger menschlicher Einsatz wichtig ist, nicht stören muss.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass M.s Kommentar mutig daherkommt, detailreich geschrieben ist und in verschiedener Hinsicht neue Blicke auf das (masoretische) Estherbuch eröffnet. Er veranschaulicht, dass auch neu geschriebene Kommentare zum Estherbuch anregende Akzente setzen können. Umso gespannter darf man sein – zum einen darauf, welche Akzente die weiteren Esther-Kommentare setzen, die in nächster Zeit in deutschsprachigen Kommentarreihen erscheinen sollen (Biblischer Kommentar, Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), zum anderen darauf, auf welches Echo M.s Thesen in der internationalen Estherforschung stoßen.