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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1248 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Damberg, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945-1980.

Verlag:

Paderborn: Schöningh 1997. 675 S. 8. Lw. DM 78,-. ISBN 3-506-79984-3 .

Rezensent:

Damian van Melis

Die Studie von Damberg ist der erste Versuch, eine Geschichte des westdeutschen Katholizismus bis zum Ende der siebziger Jahre zu schreiben. D. konzentriert sich auf das Bistum Münster, das sich über Teile von Westfalen und des Niederrheins erstreckt. Am Ende des Buches vergleicht D. seine Ergebnisse mit der Geschichte des niederländischen Katholizismus, wodurch er einen schärferen Blick für nationale Eigenarten der deutschen Kirchen- und Katholizismusgeschichte gewinnt. Allerdings räumt der Autor selbst ausdrücklich ein, daß die anhand der münsterischen Bistumsgeschichte gewonnenen Ergebnisse noch mit den teilweise abweichenden Entwicklungen in anderen Bistümern verglichen werden müssen.

Die groß angelegte Studie geht der inneren Organisation und dem Selbstverständnis der katholischen Kirche von 1945 bis in die siebziger Jahre nach. D. zeigt, wie stark die kirchlichen Konzepte und die Leitungspolitik durch Vorkriegserfahrungen geprägt waren. Dies galt vor allem unter Bischof Michael Keller, der von 1946 bis 1961 als Nachfolger von Kardinal von Galen amtierte. Obwohl er ein verhältnismäßig junges und ,fortschrittliches’ Mitglied der Bischofskonferenz war, kamen auch mit ihm "Vorstellungen zum Tragen ..., die ihre Genese der Zwischenkriegszeit verdankten, ja bis in das Zeitalter Pius’ X. zurückreichten. Die für Deutschland tiefgreifende Zäsur des Jahres 1945 war von sekundärer Bedeutung ..., weil sich die Kirche ... nicht als Teil dieses Zusammenbruchs begriff, sondern diesen im Gegenteil als Bestätigung ihrer eigenen Verkündigung verstand." (505)

D. konzentriert die Untersuchung auf die unter dem Begriff der ,Katholischen Aktion’ zusammengefaßten pastoralen Konzepte: Die Verantwortung für die "Verchristlichung der Gesellschaft" wurde den Laien übertragen, die dazu aber in einem streng hierarchischen Ausbildungs- und Anleitungsverhältnis zum Klerus stehen sollten. Damit ging in den vierziger und fünfziger Jahren der seitens der Bischöfe nur widerwillig zugelassene Aufbau der Laienverbände einher, nachdem die Nazis sie seit 1933 in partieller Interessenkoalition mit der Bischofskonferenz aufgelöst hatten. Im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte konnte die Amtskirche diese nicht zuletzt durch die an die Bistumsleitungen abgeführten Kirchensteuermittel und durch deren stark ausgebauten Zentralverwaltungen in die eigenen Strukturen einbinden.

Nach einer Einführung in die Bistumsgeschichte seit 1803 und einer biographisch-theologischen Skizze über Michael Keller untersucht D. die pastoralen Konzepte der Nachkriegszeit, die er eingehend und im Kontext ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen darstellt. Daraufhin rekonstruiert er in ausführlicher Weise die Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit und Schulpolitik, und zeigt dabei, wie die allgemeinen Konzepte in der Realität konkretisiert wurden. Neben zahlreichen neuen Befunden und Forschungsergebnissen erscheinen vor allem zwei Punkte bemerkenswert. Zum einen belegt Damberg eine eigenartige Mutation der ,Katholischen Aktion’: Ihr habe zwar "das Modell der radikalen Kaderpartei als Vorbild gedient" (506), im Laufe der Jahre zeitigte sie aber die entgegengesetzte Wirkung, nämlich die Emanzipation vieler Laien von klerikalen Bevormundungsversuchen. Sie pochten auf die ihnen gewährte Eigenständigkeit im politischen Raum, unterwarfen sich dabei aber nicht mehr den klerikalen Weisungen. Zum anderen führt D. die innerkirchlichen Reformbewegungen in den sechziger und siebziger Jahren nicht in erster Linie auf das Zweite Vatikanische Konzil zurück, sondern zeigt zahlreiche Krisen und Aufbruchssymptome innerhalb der Amtskirche und des sie umgebenden Milieus, die auch unabhängig von der päpstlichen Initiative zu tiefgreifenden Veränderungen drängten.

D.s Studie schlägt eine Schneise in die neuere konfessionshistorische Forschungslandschaft und verdeutlicht damit zahlreiche der noch vorhandenen Lücken: Besonders auffällig ist das fast völlige Fehlen von Studien, die über die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils hinausreichen. Außerdem bedarf es eingehenderer Untersuchungen über weitere Aspekte des kirchlichen Selbstverständnisses, die über die pastoralen hinausgehen. Die von D. aufgezeigte enge Verzahnung zwischen der ideengeschichtlichen Ebene kirchlicher Pastoralkonzepte und ihren sozialhistorischen - wenn auch vor allem innerkirchlichen - Konsequenzen unterstreicht die Notwendigkeit, das Selbstverständnis der Kirche und dabei besonders die Geschichte ihrer Theologie als Teil der Gesellschaftsgeschichte zu untersuchen.