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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1019–1021

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Corzilius, Björn

Titel/Untertitel:

Michas Rätsel. Eine Untersuchung zur Kompositionsgeschichte des Michabuches.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XVI, 466 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 483. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-044373-8.

Rezensent:

Rainer Kessler

Die von Reinhard G. Kratz betreute Dissertation von Björn Corzilius setzt sich zum Ziel, die Entstehungsgeschichte des Michabuches von den allerersten Anfängen bis zu seiner Endgestalt nachzuzeichnen. Bezüglich der Anfänge der Traditionsbildung hält C. der »Forschung gegenwärtig eine gewisse Unschärfe« vor (11). Sie zu beheben, trägt er textarchäologisch Schicht um Schicht ab und kommt so zu den Anfängen der Überlieferung, die er in dem »Schefela-Städte-Gedicht in Mi 1,11–15*« findet (29). Ziel der Darstellung ist es, »die Genese des Michabuches von seinem Grundbestand aus nachzeichnen und bis hin zu ihrer kanonischen Endgestalt verfolgen zu können« (16). Dazu analysiert C. ausführlich Mi 1 und Mi 2–3, während die Untersuchung von Mi 4–7 vergleichsweise knapper ausfällt. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger Fortschreibungsprozess. So werde C. zufolge der »Nukleus« des Schefela-Städte-Ge­dichts zunächst zu einer geschichtstheologischen Komposition in Mi 1,5b–16* ausgebaut. Dieser werde sodann die Theophanie in V. 3–5a vorangestellt, bevor die so entstandene Komposition 1,3–16* mehrere Nachinterpretationen erfahre, die sich im Horizont von Mi 1–3* bewegen. Noch immer im Kontext von Mi 1 erfolgten schließlich weitere Zusätze, die bereits den Horizont von Mi 1–5* voraussetzen.
In Mi 2–3 findet C. ebenso viele Fortschreibungen. Wichtig ist, dass für ihn bereits die »sozialkritische Grundschicht«, die er in 2,1–2; 3,1–2a*.9b.12 – das sind vier und zwei halbe Verse – erkennt, gegenüber dem Schefela-Städte-Gedicht sekundär ist und die er­weiterte Komposition von Mi 1* voraussetzt. Es ist nur folgerichtig, dass dann »der sozialkritische Gerichtsprophet Micha … als eine literarische Figur« erscheint (339). Dass in Mi 4–7 kein ursprünglich michanisches Gut zu finden ist, wird mit Abstrichen seit Bernhard Stade von vielen geteilt. C. erkennt in den Kapiteln zwei Fortschreibungen – Mi 4–5 und Mi 6–7 –, die in sich wiederum vielfach ge­schichtet seien.
Da ich im Folgenden eine Reihe methodischer Anfragen vortrage, möchte ich zunächst unterstreichen, dass C.s Arbeit äußerst sorgfältig angelegt ist. C. enthält sich jeglicher Besserwisserei. Er ist frei von einem krampfhaften Streben nach Originalität und nimmt bereitwillig Ergebnisse der Forschung auf, die ihn überzeugen. Überhaupt geht er mit abweichenden Positionen fair um. An jeder einzelnen Stelle wägt er sein Urteil behutsam ab, um dann doch klar Stellung zu beziehen. Im Einzelnen findet sich eine Fülle ausgezeichneter Textbeobachtungen, die die Lektüre des Buches lohnend machen. Die Wege trennen sich erst, wenn es um die Auswertung dieser Beobachtungen geht.
Die Grundfrage ist, ob die Methode einer die Texte wort-, halbsatz- und satzweise abtragenden Textarchäologie diesen angemessen ist, oder ob die von C. monierte »Unschärfe«, bei der die meisten neueren Untersuchungen in der Tat stehen bleiben, nicht sachlich begründet und angesichts der Überlieferungslage geboten ist. Ich beginne mit dem Ergebnis von C.s Analyse, dem »Kristallisationskern« in Mi 1, aus dem das ganze spätere Michabuch entstanden sein soll. Er hat folgenden Wortlaut (130):

V. 11aαβ Fort mit euch,
Einwohnerschaft Schafirs!
V. 11bα Es ist nicht ausgerückt
die Einwohnerschaft Zaanans.
V. 12a Sie windet sich nach Gutem,
die Einwohnerschaft Marots.
V. 13a Binde den Wagen an das Gespann,
Einwohnerschaft Lachischs,
V. 14a du wirst Abschiedsgeschenke geben
für Moreschet Gat.
V. 15a Noch (dauert) die Eroberung (an), wehe dir,
Einwohnerschaft Mareschas.


Da in dem rekonstruierten Text die Zeile über Moreschet Gat hervorgehoben ist – sie hat statt »Einwohnerschaft« (= jôšæbæt) das sich reimende môræšæt –, und da Mi 1,1 Micha einen Moreschetiter nennt, vermutet C., der »Sachverhalt könnte darauf hinweisen, dass das Gedicht auf eine historische Figur aus Moreschet Gat zurückgeht« (142). Die Funktion der Verse, in denen »[d]as Geschehen […] weder theologisch gedeutet noch explizit mit JHWH in Verbindung gebracht« wird (146), sieht C. zunächst in einer »Informationsübermittlung« an die Städte der Umgebung und besonders Jerusalems. »Der Zweck der Übermittlung bestünde darin, weitere Gebietsverluste zu verhindern und die Gefährdung der Hauptstadt abzuwenden« (148). Nun weiß C. selbst, dass militärische Nachrichten auch damals nicht in Gedichtform verfasst wurden. So vermutet er weitere Funktionen: Verarbeitung des Geschehens, Be­schwörung der Gottheit, um das Unheil abzuwenden, und später auch eine belehrende Funktion. Da die nächste Bearbeitungsstufe erst »im Horizont der babylonischen Zeit« erfolgt sein soll (149), wäre dieses kontextlose und aus sich heraus kaum verständliche Gedicht, das »auf einem Ostrakon ausreichend Platz hat« (148), zu­sammen mit einer auf Micha weisenden Verfassernotiz anderthalb Jahrhunderte lang in den königlichen Archiven aufbewahrt worden (153), um dann zum »Kristallisationskern« eines Buches zu werden, das es auf sieben Kapitel gebracht hat.
Nun steht dieses Gedicht gar nicht im vorhandenen Text von Mi 1, sondern wird aus ihm herauspräpariert. Das führt zur Frage der Kriterien für die Rekonstruktion. Unterstellt wird eine in sich geschlossene Gedichtform. Alles, was sich in sie nicht einfügt, wird entfernt, gleichfalls alles, was den engsten Horizont um Moreschet Gat überschreitet und auf Jerusalem oder Israel verweist. Es fallen alle Anspielungen auf die David-Tradition in V. 10a.10b.15 sowie die theologischen Deutungen in V. 12.13b heraus. Über jeden einzel nen dieser Punkte kann man streiten; auch vor C. ist mancher Versteil schon als Zusatz bestimmt worden. Insgesamt aber drängt sich der Eindruck einer zirkulären Argumentation auf. Was nicht in den engen Horizont der Schefela, ins angenommene Gedicht-Schema und in die deutungsfreie »Informationsübermittlung« passt, wird gestrichen, um dann sechs Sprüche zu erhalten, »die nach Form, Stil und Inhalt eine geschlossene literarische Einheit bilden« (130). Wenn C. die »literarische Ausgestaltung« des Gedichts nach über hundert Jahren unter anderem dadurch motiviert sieht, dass »es noch keine Aussage über Anlass, Ursache und Hintergrund des abgebildeten Geschehens« enthält (153), dann ist eine solche Deutung nur möglich, wenn man zuvor jede »Aussage über Anlass, Ursache und Hintergrund des abgebildeten Geschehens« herausgestrichen hat.
Es ist hier nicht möglich, C.s Argumentation für die weitere Textentwicklung besonders in Mi 1–3 nachzuzeichnen. In dem Bestreben, die »Unschärfe« bisheriger Auslegungen zu überwinden, macht C. die Grundvoraussetzung, dass der Überlieferungsprozess ausschließlich schriftlich vonstatten geht, und zwar so, dass immer nur an vorhandene Bestände etwas angefügt wird. Anders ließen sich nämlich vom Endtext ausgehend die darunter liegenden Schichten gar nicht in der von C. angestrebten Schärfe abheben. Aber gilt diese Voraussetzung so unhinterfragt? Ist nicht eher davon auszugehen, dass Überlieferung in der Antike wenn nicht primär, so doch immer auch zu erheblichen Teilen mündlich erfolgt? Ist dann nicht damit zu rechnen, dass ältere Textbestände sich verändern, wenn nicht gar ganz wegfallen? Unter solchen Voraussetzungen wäre die von C. kritisierte »Unschärfe« durchaus sachgemäß.
Die hier alternativ gegenüber gestellten Voraussetzungen zum Überlieferungsprozess, die das Ergebnis wesentlich bestimmen, lassen sich nicht a priori entscheiden. Sie verlangen die Arbeit am Text. Diese leistet das Buch von C., weshalb es auch diejenigen weiterzuführen vermag, die seine Grundannahmen nicht teilen.