Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1245–1248

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meißner, Stefan

Titel/Untertitel:

Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. IX, 359 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 87. Kart DM 118,- . ISBN 3-16-146589-X.

Rezensent:

Otto Merk

Aus Platzgründen ist nur eine kurze Anzeige dieser engagiert und zielgerichtet geschriebenen Heidelberger Dissertation möglich. Dem Vf. geht es um die "Heimholung" des Paulus in das Judentum und damit um dessen Befreiung aus "pathologischen Deformationen", die ihm seit der im 2. Jahrhundert einsetzenden "nachträglichen Antijudaisierung" in der christlichen Paulusforschung zugefügt wurden. Näherhin geht es um die Beseitigung des "pagan-hellenistischen Einflusses", unter den besonders die Irreführung durch die Religionsgeschichtliche Schule ihn gebracht hat (1 ff.). Anliegen des Vf.s ist es darum, neutestamentliche Wissenschaft aus ihrer diesbezüglichen "unheilvollen Schuldverstrickung zu befreien" (1), die den Autor nötigt, seine "Beschäftigung mit der jüdischen Paulusauslegung nicht allein als einen Beitrag zur Erforschung des ,historischen’ Paulus und seiner Lehre" anzusehen (1 f.).

Der Vf. gliedert seine Darlegung in zwei Teile, einen forschungsgeschichtlichen, in dem er die jüdische Paulusforschung vom 19. Jahrhundert an bis in die Gegenwart skizziert, und einen zweiten Teil, in dem "thematische Brennpunkte der jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus" "primär systematisch-theologisch" erörtert werden, doch so, daß kritische Beurteilung mit "Fallbeispielen" auch exegetisch-theologisch vertiefen soll. Ein abschließendes Kapitel faßt auch im Blick auf das christlich-jüdische Gespräch einige Schwerpunkte zusammen.

Einige Hinweise müssen genügen: "2. Geschichte der jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus" (9-140) bietet in einer subjektiven (11), gleichwohl aber im ganzen repräsentativen Auswahl unter den Stichworten "älteres Paradigma" und "neueres Paradigma" je zwölf Beispiele aus der Forschung. Das ältere Paradigma betrifft jüdische Autoren, besonders die des 19. Jh.s, die in Paulus allein den Abtrünnigen sehen, das neuere Paradigma führt jene Gelehrten (mit zwei Ausnahmen) an, die besonders im 20. Jh. für die Rückholung des Paulus in das Judentum plädieren.

Jeder dargestellten Position wird eine zumeist treffende Überschrift gegeben und eine - oft bewegende - Kurz-Vita vorangestellt. Wichtige Zitate bereichern die Darstellung. Zum "älteren Paradigma" zählt der Vf. Joseph Salvador (1796-1873); Samuel Hirsch (1815-1889); Heinrich Graetz (1817-1891); Elia Benamozegh (1823-1900); Isaac Mayer Wise (1819-1900); Kaufmann Kohler (1843-1926); Moritz Friedländer (1844-1919); Claude Goldsmith Montefiore (1858-1938); "Ausnahme von der Regel (I)" Gottlieb Klein (1852-1914); Joseph Gedalja Klausner (1874-1958); Martin Buber (1878-1965); "Paradigmenwechsel in Person (I): Der frühe Leo Baeck (1873-1956)". - Das "neuere Paradigma" wird vertreten durch "Paradigmenwechsel in Person (II): Der späte Leo Baeck (1873-1956)"; Hans Joachim Schoeps (1909-1980); Samuel Sandmel (1911-1979); Schalom Ben-Chorin (geb. 1913); David Flusser (geb. 1917); Richard Rubenstein (geb. 1924); Michael Wyschogrod (geb. 1928); "Ausnahme von der Regel (II) Hyam Maccoby (geb. 1924)"; "ein Konvertit zum Judentum: Lester Dean (geb. 1950)"; Alan Franklin Segal (geb. 1945); Pinchas Lapide (geb. 1922 [inzwischen verst.]); Daniel Boyarin (geb. 1946).

Die wesentlich korrekte und doch jeweils bewußt unvollständige (s. u.) Darstellung der Positionen, wofür der Vf. u. a. W. Wiefel, Paulus in jüdischer Sicht, Jud 31, 1975, 109 ff.151 ff. und besonders N. Fuchs-Kreimer, The "essential Heresy": Paul’s view of the law according to Jewish writers, 1886-1986, Diss. Temple-University, Philadelphia 1990, benutzen konnte, ist unter zwei Gesichtspunkten auffällig:

a) Für eine ausgeführte forschungsgeschichtliche Untersuchung fehlt das ebenfalls zu erfassende Gegenüber auf "christlicher" Seite. So behandelt der Vf. nicht, inwieweit nachfolgende Problemanzeigen bereits in der beginnenden Jesus-Paulus-Debatte in der späteren Phase der Aufklärung (vor allem in Deutschland) deutlich präfiguriert sind, noch kommt das keineswegs einheitliche Bild des Judentums in der Forschung evangelischer und katholischer Theologen im 19. Jh. zum Tragen, worauf jüdische Gelehrte doch stärker in ihren eigenen unterschiedlichen Positionen zumindest indirekt, jedenfalls aber mit sensiblem Gespür auch für das Paulus von ihnen Trennende Bezug nehmen, als es der Vf. erkennen läßt (nur einige Namen müssen hier für das Ganze stehen: G. L. Bauer; G. Ph. Chr. Kaiser; D. G. C. v. Cölln; F. C. Baur; A. Neander; A. Hilgenfeld).

b) Die forschungsgeschichtlichen Nachweisungen werden vom Vf. in der methodischen Anlage seiner Diss. "atomisiert", indem er erst im zweiten Hauptteil zu den verschiedenen theologischen Bereichen (z. B. Gesetz, Christologie, Israelverständnis etc.) die Ergebnisse der im ersten Hauptteil genannten Persönlichkeiten darlegt und dann erörtert. Damit aber wird die in sich gerundete Forschungsleistung des jeweils Behandelten zur Problemlage nicht mehr voll in ihren Nuancen erfaßt.

In der Tat ist Vollständigkeit bei dem vom Vf. gebotenen Überblick nicht möglich, doch bedauert man, daß in der Darstellung J. Klausners W. G. Kümmels im Literaturverzeichnis genannte umfassende Besprechung des Werkes dieses jüdischen Gelehrten nicht ausgewertet wurde und ebenso die von W. Wiefel (Jud. 31, 1975; 113 f. u. Anm. 25.27-46), Gerh. Jasper (Jud. 14, 1958, 65-100) u. a. unberücksichtigt bleiben (auch der ausgewogene Überblick zum Thema des Vf.s bei W. G. Kümmel, Jesus und Paulus, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte [Bd. 1], 1965, 439 ff., [passim] fehlt). Weit gravierender aber ist, daß die Rezensionen der behandelten jüdischen Forscher über die einschlägigen Darstellungen christlicher Autoren zum Judentum und zu Paulus ganz ausfallen. Unverständlich bleibt schließlich, daß - neben R. T. Herford (passim)- Hans Jonas völlig übergangen wird, dessen Paulus-Verständnis wirkungsgeschichtlich von erheblichem Belang wurde.

Nimmt man den zweiten Hauptteil hinzu (141-302), so kann man unter forschungsgeschichtlichem Aspekt fragen, ob der Vf. nicht besser daran getan hätte, wenn er einen umfassenderen, aber dafür einen noch mehr in die Tiefe und umsichtig weitgreifenderen Forschungsbericht vorgelegt und die Bearbeitung der Themata des zweiten Teils einer gesonderten Publikation vorbehalten hätte. Denn was der Vf. von S. 141 an bietet, ist - unabhängig von den Einzelergebnissen - schon von der Anlage her zu hinterfragen: Das Schema "Jüdische Positionen", "Kritische Beurteilung" nötigt dem Vf. Kompromisse eklektischen Vorgehens ab, die weder der forschungsgeschichtlichen noch der exegetisch-theologischen Seite weiterführend dienlich sind, auch wenn die wichtigsten Schwerpunkte "der jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus" behandelt werden.

Die Durchführung selbst stellt vor ein Grundlagenproblem, das der Vf. vernachlässigt, nämlich das Alter der von ihm herangezogenen Traditionen und Einzelüberlieferungen im Judentum. Es wird ein kompaktes Gebilde errichtet, das in Jahrhunderten entstanden ist, ohne daß in den Grenzen möglicher Absicherung deutlich wird (doch vgl. etwa 167.210.212), was wirklich der paulinischen Zeit parallel zur Geltung gebracht werden kann und für Paulus "materialiter" schon aus der Tradition von Belang war. Die nicht herangezogene Untersuchung von Kh. Müller, Zur Datierung rabbinischer Aussagen, in: Neues Testament und Ethik. Für R. Schnackenburg, hg. v. H. Merklein, 1989, 559-587, hätte für des Vf.s eigene weitreichenden Folgerungen problematisiert werden sollen. Angemerkt sei auch, daß der Vf. wohl doch zu wenig die Argumentationsweise in den dem Paulus aufgenötigten Gelegenheitsbriefen berücksichtigt und so Paulus vielleicht ungewollt stärker "systematisiert".

Die exegetischen Bemühungen des Vf.s zielen einlinig darauf, Paulus in seinem Wirken und in seinem theologischen Denken ganz im Judentum seiner Zeit zu verankern. Die "Berufung" des Paulus (141-175, der Vf. hält diese Bezeichnung für unangemessen) wird im Rahmen jüdischer Mystik erklärt. Ihre zeitliche Vorordnung vor weiteren Visionen wird zwar weithin in der jüdischen Forschung und vom Vf. anerkannt, aber als exzeptionelles Geschehen im Leben des Paulus wird sie deutlich nivelliert.

Paulus im Rahmen "apokalyptischer jüdischer Mystik" zu sehen, ist der den Vf. leitende Hintergrund auch seiner weiteren Ausführungen. - "Die paulinische Christologie und jüdische Mittlervorstellungen" (176-213) weiß der Vf. unter Beachtung auch differenzierter jüdischer Messiaserwartungen zu verbinden; der Titel "Sohn Gottes" wird vornehmlich aus der jüdischen Apokalyptik erklärt und Phil 2,6-11 aus der Merkawah-Mystik (neben vielen Punkten hat mich besonders letztgenannter exegetisch und religionsgeschichtlich nicht überzeugt).

Richtig ist, mit den Titulaturen auch deren "Funktionen" zu berücksichtigen. - "Die paulinische Gesetzeslehre und die jüdische Tora" (214-256) fallen für den Vf. zusammen, wobei dementsprechende Ansichten aus den letzten Jahrzehnten - teilweise verschärfend - wiederholt werden, nicht aber der wirklich springende Punkt zur Geltung kommt, wie der Hiatus zwischen historischem Verstehen und theologischer Durchdringung hermeneutisch bewältigt werden kann. Der Vf. vermag nicht die Situation des Menschen unter dem Gesetz in die Verkündigung des Paulus einzubinden, und darum wird nicht die jeden Einzelnen unbedingt angehende Offenlegung der je eigenen Situation vor Gott, die der Apostel theologisch als gesetzliche Gebundenheit des Menschen angesichts des ihn unbedingt anredenden und befreienden Wortes Gottes aufdeckt, erörtert (vgl. z. B. 220 ff.). Der Vf. vermag dies nicht, da es für ihn unsachgemäß ist, von Paulus als einem durch Gottes Ruf total Gewandelten seine (frühere) Stellung zum Gesetz beurteilen zu lassen. Dem entspricht in der Sache auch, daß Röm 7 vom Vf. nicht aus der Sicht des Erlösten (Röm 8) gedeutet werden kann (z. B. 227 ff.). Daß die dargebotene Beweisführung die Begrifflichkeit der "Entlutheranisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre" sowie karikierende Pauschalurteile benötigt, ist bedauerlich (218 f.). Für den Nachweis, die paulinische Heidenmission sei durch die jüdische Halacha voll gedeckt, da Paulus (zumindest im wesentlichen) das Aposteldekret aus Apg 15,20 gekannt und umgesetzt habe (in "Die paulinische Heidenmission und jüdische Halacha für Heiden" [257-280]), ist in der Argumentation m. E. sehr brüchig, gekünstelt und mit reicher Überdeutung. Sie überzeugt den Vf. offenbar selbst nicht ganz (305 f.).

Völlig verfehlt aber ist es, wenn er die Entfaltung paulinischer Ethik aus dem Heilshandeln Gottes (und nicht [zugespitzt] allein aus der Tora) als eine Gefährdung des Monotheismus und darum für das Judentum im Umfeld des Apostels und resultierend bis in die Forschung jüdischer Gelehrter als unerträglich ansieht (279 f.). - Im Themabereich "Die paulinische Israeltheologie und jüdische Zukunftserwartung" (281-302) vermittelt der Vf. einen jüdische Forschung und gegenwärtige exegetische Diskussion referierenden Überblick, dabei selbst einen "Sonderweg" Israels durch den "Parusiechristus" als sachgemäß betonend (299 ff.302). Daß Röm 11,32 überhaupt nicht in die Überlegungen einbezogen wird, schränkt allerdings die Argumentation ein; exegetisch und theologisch bleiben im übrigen zahlreiche kritische Anfragen, die der Vf. allerdings durch zu eklektische Diskussionsgrundlage selbst fördert.

In "Zusammenfassung und Ausblick" (303-309) bestätigt sich dem Vf. erneut, daß Paulus allein aus seiner persönlichen und theologischen Verwurzelung im Judentum verstanden werden kann (302 ff.). Historisch gesehen sei ein erst nachpaulinischer Trennungsprozeß zwischen Juden und Christen zu konstatieren (307). - Schließlich wird nach dem Proprium des Christlichen insoweit gefragt, als der Vf. festhält: "Nicht, daß wir nun Juden werden müßten, um gute Christen zu sein" (308). Aber was dann das Christliche - möglicherweise unterscheidend Christliche - ausmacht, tritt in vorliegender Untersuchung völlig zurück, damit aber das, was viele jüdische Forscher feinsinnig und nicht verletzend erspürt und als das unterscheidend Grenzen Setzende ihren christlichen Gesprächspartnern angedeutet haben.

Nicht die vielfach in vorliegender Untersuchung erfolgende Pauschalverurteilung einer breiten Forschungsrichtung besonders im 20. Jh., die die christliche Identität des Apostels Jesu Christi in ihren Überlegungen nicht ausschloß und nach dem Christuszeugen und -verkündiger Paulus und seiner durch das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus ermöglichten, unerhört neuen, rettenden Heilsbotschaft für alle Menschen fragte, hilft weiter (hier ist vielmehr zum eingehenden Wiederlesen dieser Forschung aufzurufen), sondern: "Das christlich-jüdische Gespräch kann gerade dort intensiv geführt werden, wo die jeweilige eigene Identität festgehalten wird" (F. Hahn, Die Verwurzelung des Christentums im Judentum, 1996, VIII). Zu dieser Einsicht haben uns dankenswerterweise jüdische Theologen auch in der Paulusforschung vielfach ermutigend hingeführt.