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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1007–1008

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Exegese und religiöser Praxis. Heilige Texte von der Spätantike bis zum Klassischen Islam.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. VIII, 297 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-153229-0.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Das Göttinger Forschungszentrum Edris zum Verhältnis von antiker Bildung und den Religionen der Antike, einschließlich des Islam (weitergeführt als SFB 1136, s. ThLZ 142 [2017], 164–179), hat zum dritten Mal eine Vorlesungsreihe veröffentlicht, dieses Mal zum Thema der Heiligen Schriften: wie sie ausgelegt und in der religiösen Praxis verwendet wurden. Natürlich ist ein Sammelband kein Handbuch, aber die zehn Aufsätze stellen sich der Fragestellung, die der Herausgeber in der Einleitung (1–13) skizziert: Wie werden Texte zu heiligen Texten erklärt von und für eine bestimmte Gemeinde (relationaler Heiligkeitsbegriff), wie werden sie universalisiert? Welche Texte werden aus dem Kanon entfernt, wie ändert sich die Binnenvernetzung, wenn das einzelne Buch zum Teil des Kanons wird? Gibt es außerhalb der sogenannten Buchreligionen und der Monotheismen der jüdisch-christlich-islamischen Religionsfamilie auch Heilige Texte? Wie werden die Heiligen Bücher im Ritual zu heiligen Gegenständen? Wie werden aus alten Texten neue aktuelle Aussagen durch die Exegese?
M. Niehoff erklärt (15–30), wie Philon, besonders an der Eigenart der Beschneidung, die Tora durch Exegese als einen im hellenistisch-römischen kulturellen Kontext plausiblen Text erläutert und ihn an stoische Werte adaptiert. Im Neuen Testament hingegen verändert der Christusglaube den Schriftgebrauch in einer eschatologischen Zuspitzung (F. Wilk, 31–60). Gibt es Heilige Texte in den paganen Religionskulturen? M. Erler kann an Platon zeigen, wie erst im Neuplatonismus die Dialoge zu heilsamer Lektüre kultisch aufsteigen – analog zu den Chaldäischen Orakeln und in Konkurrenz zu anderem ›Altem Wissen‹ (61–84). Die umgekehrte Richtung nimmt Origenes’ Exegese der Bibel ein, indem er sie als kongruent mit der platonischen Ideenwelt darstellt (A. Fürst, 85–116). Wichtig wird die Frage, ob es auch pagane Heilige Schriften gibt, dank der systematischen Einordnung im Aufsatz von U. Egelhaaf-Gaiser zur Rezeption des ›Propheten‹ (vates) Vergil (117–142): Erst zu einer Zeit, als die paganen Kulte aus der Öffentlichkeit verdrängt waren, würden Texte von Vergil zu heiligen Texten und imaginierter Kultpraxis. Das könne man auch an der christlichen Rezeption der 4. Ekloge zeigen (wie Eduard Norden das tat in »Die Geburt des Kindes« 1924). Patchwork (Cento) aus zusammengenähten Vergilversen könne neue, auch christliche Texte hervorbringen. – Während in Ägypten das Griechische in der späteren Antike die Literatursprache blieb, auch die Sprache der Kirche, entstand für die Mönche eine eigene Sakralsprache, in die auch die Bibel übersetzt wird: das Koptische. H. Behlmer zeichnet diesen abgegrenzten kulturellen Kosmos (143–175). – D. Bumazhnov stellt die ›Schule‹ von Nisibis im spätantiken Syrien vor, die sich als Fortsetzung der Schulen des Moses, Salomo, Platon, Zoroaster, Jesu, Arius’ usf. versteht. Am Anfang der scientia perennis steht die Schule der Engel: Wie kann man das aus der Genesis lesen? (177–204). – H. Röckelein fragt (eine umfangreiche Untersuchung zusammenfassend), wie Frauen im Mittelalter die Bibel lasen, geistliche wie weltliche Frauen (205–226), wobei nur einem Evangelistar die Würde eines sakralen Buches zukam. In dieses konnten Klöster dann auch Besitzurkunden ihrer wirtschaftlichen Grundlage eintragen. Gewarnt wurde vor dem (Liebes-)Hoheslied, gelesen wurden aber auch Gregors des Großen Moralia in Job, Apokryphen und Häretisches. Zwei Aufsätze zum Islam beschließen den Band. H. Motzki diskutiert die ›Überlieferung‹, die Andeutungen und unklare Stellen des Koran präzisieren durch angebliche Worte und biographische Anekdoten (Hadithe) aus dem Leben des Propheten (227–244). Eine sehr gute Einführung, allerdings mit der begrifflichen Krücke, es handle sich um ›quasi-heilige‹ Texte. Ein ausgeführtes Beispiel zu einem um­strittenen Thema wäre gut gewesen. Es ist keine der deutschen Übersetzungen angegeben (etwa al-Buchari bei Reclam 1991; die thematische Sammlung von A.-Th. Khoury, 5 Bände, 2008–2011). Aber die wichtigste und im Christentum unbekannte Quelle für praktizierte Religion nächst dem Koran ist sehr gut eingeführt.
Einen Höhepunkt des Bandes bildet das Kapitel von A. Neuwirth zu dem komplementären Prozess ›Exegese im Koran und Exegese zum Koran‹ (245–273). Am Beispiel des Propheten Mose in der Sure 20 erläutert Neuwirth, wie Muhammad und seine Gemeinde in Medina zum einen durch die Beteiligung an der Liturgie der Gemeinde der Juden deren Traditionen lernt, aufnimmt und die mekkanischen Prophetensprüche in die religiöse Sprache der Mo­notheisten einfasst. Dabei begegnet er nicht mehr den offenen Text- und Erzählteilen der ›interpreted bible‹ im »Denkraum der Spätantike« ohne feste Zuordnung zu einer religiösen Tradition, sondern jetzt auch dem Bibelkanon. Aus den einzelnen Suren werden nun Kapitel eines Buches (die allerdings nicht in der heutigen mechanistischen Anordnung nach Länge der Sure, sondern in ihrer historischen Entstehung zu lesen und zu verstehen sind). Jetzt stehen die Muslime in einem neuen »Diskussionsraum« mit den Juden. Muhammad wird zum Anti-Typus der früheren Propheten. Und es gilt nun, die Gemeinde zu einen auf den strafenden und gnädigen Gott hin analog zur Liturgie des Jom Kippur.
Alle Beiträge diskutieren problemorientiert auf hohem Niveau je an einem ausführlicheren Beispiel das Problem der Verwendung Heiliger Schriften, aktualisiert durch Exegese. Register, einschließlich eines systematischen, runden diesen lesenswerten Band voll gut kontextualisierter Beispiele für Heilige Schriften und ihren Gebrauch für die religiöse Praxis ab.