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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1237–1239

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ciampa, Roy E.

Titel/Untertitel:

The Presence and Function of Scripture in Galatians 1 and 2.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1998. XIII, 449 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 102. Kart. DM 128,-. ISBN 3-16-146895-3.

Rezensent:

Florian Wilk

Das Buch enthält die überarbeitete Version einer bei B. Rosner angefertigten Doktorarbeit, die 1996 in Aberdeen angenommen wurde. R. Ciampa analysiert die Kapitel 1-2 des Galaterbriefs "as a possible source of information regarding the presence and function of Scripture in Paul’s writing" (6). Diese für einen nicht durch Zitate oder klare Anspielungen geprägten Text überraschende - in einschlägigen Arbeiten zum Galaterbrief und zum Schriftgebrauch des Paulus daher kaum behandelte (7-19) - Fragestellung wählt C. mit Bedacht. Um die Bedeutung der Schrift für das ganze Corpus Paulinum beschreiben zu können, müsse man nämlich die ,Kurzsichtigkeit’ (4) der bisherigen, auf Zitate oder besondere Briefteile fixierten Forschung überwinden und auch ,den hermeneutischen und rhetorischen Effekt eines subtileren, intuitiven oder gar unbewußten Schriftgebrauchs’ (7) bedenken. Nur auf diese Weise entspreche man der berechtigten Forderung A. von Harnacks, die Rolle der Schrift im Werk des Paulus sei auf der Basis sämtlicher Briefe zu bestimmen (3 f.).

Grundlage der Untersuchung ist eine im Anhang (297-373) dokumentierte Strukturanalyse des Galaterbriefs, zumal der Kapitel 1-2; erst sie nämlich mache es möglich, die Funktion einzelner Schriftbezüge innerhalb jenes Textes zu beschreiben. In expliziter Aufnahme des Konzeptes der ,Intertextualität’ ("all discourse depends upon, builds upon, modifies and/or reacts to prior discourse and the prior use of words, concepts and sentences" [25]) unternimmt es C., neben Schriftzitaten, Anspielungen und Anklängen auch "the scriptural background behind the words, concepts, idioms, topics, structures and concerns" (22) aufzuspüren; methodisch lehnt er sich dabei an Studien von Rosner und R. Hays an (24 f.; beiden geht es freilich primär darum, Anklänge der Schrift im NT zu identifizieren). Sein Ziel besteht darin zu zeigen, auf welch vielfältige Weise die Schrift - gelesen im Licht jüdischer Deutungen aus der Zeit des zweiten Tempels - die Argumentation des Paulus beeinflußt hat (22 ff.) und wie die Wahrnehmung solchen Einflusses dazu beiträgt, Sinn und Wirkung dieser Argumentation zu verstehen (33).

Den Hauptteil (35-220) bildet ein Durchgang durch Gal 1-2 in sechs Kapiteln, die den - in der Strukturanalyse erhobenen, dort aber nicht gleichgeordneten - Abschnitten 1,1-5.6-10.11f. 13-24; 2,1-10.11-21 gewidmet sind; dabei wird jeweils nach der Präsenz der Schrift und nach der Funktion des erhobenen Schriftbezugs gefragt. Im Schlußteil (221-294) bündelt C. zunächst seine Ergebnisse im Blick auf den Schriftgebrauch des Apostels in Gal 1-2, auf dessen Verhältnis zu den Gegnern in Galatien - unter Beachtung der jeweiligen Stellung zum Gesetz- sowie auf die von Paulus vorausgesetzte Leserschaft; anschließend macht er deutlich, welche Konsequenzen jene Ergebnisse haben für das Verständnis des gesamten Schreibens, des paulinischen Umgangs mit der Schrift und des jüdischen Charakters, der dem Apostel als Autor des Galaterbriefs eignet. Am Ende (295 f.) faßt er seine Erkenntnisse in 16 Thesen zusammen.

Es gelingt C. aufzuzeigen, daß auch für Gal 1-2 die alte These einer "Einheitlichkeit der Sprache beider Testamente" gilt, wie sie z. B. durch G. von Rad (Theologie des Alten Testaments II, München 71980, 374-379: 377 [von C. nicht rezipiert]) entwickelt wurde: Paulus formuliert seine Aussagen mit der Schrift als seinem "Wörterbuch"; etwa so, wie ein Maler sein Bild mit den Farben malt, die ihm auf seiner Palette zur Verfügung stehen (100.230, jeweils J. Neusner zitierend). Er bedient sich also der Schrift, um die Welt, in der er lebt, zu beschreiben (229); dabei stellt er Gott als Vater (vgl. 1,1.3 f.) der endzeitlichen Gemeinde (vgl. 1,2.13.22) dar, sich selbst als eschatologischen Propheten (vgl. zumal den - von B. Lindars u. a. benannten - Rekurs in 1,10.15 f.24; 2,2 auf Jes 49), seine Gegner als "Verführer" (vgl. die von K. O. Sandnes aufgezeigten Anklänge von Dtn 13 in Gal 1,8 f.) und die Gemeinden Galatiens als Gottesvolk, das im Begriff steht, von Christus und damit von Gott abzufallen (vgl. 1,6 f.). Auf diese Weise kongruiert der Schriftbezug in Kapitel 1-2 mit deren rhetorischer Funktion: Er bekräftigt die apostolische Autorität des Paulus (226) und bereitet - indem er in einen von der Schrift geprägten Sprachraum einführt - die folgende exegetische Argumentation vor (258 ff. 271 ff.285 f.).

Diese Gesamtsicht wird durch einleuchtende Vorschläge für eine Verankerung paulinischer Aussagen in der Schrift gestützt. Zu nennen sind hier die Ausführungen zum Wort ,Evangelium’ als "shorthand for the eschatological message of salvation" (90), zur Selbstpräsentation des Paulus als eines wahren Propheten in 1,10.12 und 2,2.5, zur Formulierung in 2,11b als einem Hinweis auf seinen Erfolg sowie zur Zurechtweisung des Petrus als einer Aktion zum Schutz der Glaubensgemeinschaft; ferner die Hinweise zu 1,16a-b auf 1Sam 3,21 sowie zu Gal 2,16 auf Ps 143,2 samt Gen 15,6 und Hab 2,4.

Andere von C. behauptete Bezüge stehen jedoch auf schwachen Füßen: Jes 53,6 läßt sich nicht auf die in Gal 1,4; 2,20 ausgesagte Selbsthingabe Christi deuten; daß Paulus gelegentlich auch den hebräischen Text beizieht (in 1,6 sieht C. Ex 32,8 anklingen), ist kaum denkbar; an einigen Stellen ist die sprachliche Kongruenz mit den angeblichen Basistexten (zu Gal 1,7 verweist C. auf 1Chr 2,7, zu Gal 1,16a auf Jes 49,3, zu Gal 2,18a auf Jer 1,10 u. a.) zu gering, um einen Konnex wahrscheinlich zu machen; andernorts passen die beigezogenen Schriftworte (Jes 49,6 zu Gal 2,7 f., Ex 3,21 u. ö. zu Gal 2,9a, Jes 45,24 zu Gal 2,12c) in sachlicher Hinsicht nicht gut zu den betreffenden Äußerungen des Paulus. Wenig überzeugend ist es auch, wenn C. 2,15.17a mit J. Dunn als ironische, Vorwürfe der Gegner aufnehmende Sätze auslegt.

Die eigentliche Schwachstelle der Untersuchung liegt im Bereich der Methodik. Erstens läßt C. offen, was er unter ,Schrift’ versteht. Zwar trennt er in der Einleitung zwischen Bezügen auf die Schrift und Parallelen zu frühjüdischen Texten (23 f.31 ff.); im Folgenden jedoch werden Belege aus Jesus Sirach, den Makkabäerbüchern etc. nicht nur als "Second Temple texts" (166 u.ö.), sondern z. T. auch als Schriftworte (60 Anm. 100, s. 106f. u. ö.) behandelt - was sie für Paulus gewiß nicht waren! Zweitens versäumt es C., verschiedene Sorten von Schriftbezügen (s. o. zu 22) zu differenzieren. Solche Differenzierung ist aber notwendig: Einerseits haben Texte, die Paulus rezipiert, für ihn ein anderes Gewicht als Begriffe, die seinen Sprachgebrauch prägen; andererseits wäre die Frage nach dem etwaigen Adressatenbezug jener Schriftbezüge (260-270 u. ö.) für jede Sorte gesondert zu bedenken (unter Aufnahme des Hinweises von U. Eco, daß jeglicher Text seinen "model reader" [267] sowohl voraussetzt als auch erschafft). Im übrigen ist es keineswegs gleichgültig, ob Paulus einen Text wie Jes 49,1-6 im eigenen Wirken erfüllt sieht (155. 125) oder ihn nebst Jer 1 als Modell seines apostolischen Selbstverständnisses auffaßt (236.114).

Grundsätzliche Bedenken weckt auch der Versuch, Gal 1-2 als Zeugnis einer in der Schrift gründenden "apocalyptic-restorationist theology" (232) zu lesen, die eine Zwei-Äonen-Lehre (vgl. 1,4) mit der Ansicht verbindet, das Gesetz des Mose werde durch sein eschatologisches Gegenstück, das Evangelium von Christus, abgelöst (238-242 u. ö.): Zunächst läßt sich die Rede von einer "Ablösung" des Gesetzes nicht mit den Aussagen in 1,13 f.; 2,14.16 vereinbaren; dort setzt Paulus sich ja jeweils - wie C. selbst betont - von der Orientierung an einer besonderen Halacha ab, nicht vom Gesetz als solchem. Sodann ist die Textbasis für die These, Paulus stelle seine Argumentation von Anfang an in ein "exile-restoration framework" (273) hinein, recht schmal; daß er z. B. das Christusgeschehen als zweiten Exodus deutet, kann man den Wendungen in 1,4.6; 2,4b nur schwer entnehmen. Wenn ihm aber dennoch eine derartige Theologie zugeschrieben werden soll, kommt als ,Quelle’ (232.295) weniger die Schrift als vielmehr ein bestimmter Ausschnitt der jüdischen Literatur aus hellenistisch-römischer Zeit in Betracht.

Erst bei Berücksichtigung dieser methodischen und interpretatorischen Einwände gewinnt eine zentrale These von C. die ihr zustehende Überzeugungskraft: "Paul’s letter to the Galatians is a response to potential apostasy in very Jewish terms" (292).