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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1235–1237

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bee-Schrödter, Heike

Titel/Untertitel:

Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1998. XII, 482 S. 8 = Stuttgarter Biblische Beiträge, 39. Kart. DM 89,-. ISBN 3-460-00391-X.

Rezensent:

Bernd Kollmann

Es handelt sich um die Druckfassung einer von H. Frankemölle und N. Mette betreuten Paderborner Dissertation, in deren Zentrum eine empirisch-entwicklungspsychologische Studie zu dem Thema steht, wie Kinder und Jugendliche heute biblische Wundergeschichten rezipieren. Obwohl die Untersuchung in einer bibelwissenschaftlichen Reihe publiziert ist, stellt sie weitestgehend ein praktisch-theologisches Werk dar. Zur methodischen Absicherung und zur Bereicherung des interdisziplinären Dialogs zwischen Religionspädogogik und Humanwissenschaften nimmt die Darstellung von Rezeptionsästhetik, Entwicklungspsychologie und qualitativer Sozialforschung breiten Raum ein. Die Arbeit erhebt den Anspruch, gleichermaßen für die biblische Exegese wie für die Religionspadägogik relevant zu sein. Letzteres gelingt ihr in eindrucksvoller Weise, ersteres vermag sie nur in bescheidenem Maße einzulösen.

Ausgangspunkt der Studie war, wie B.-S. in ihrer Einleitung (I) betont, die Wahrnehmung eines religionspädagogischen Defizits. Einerseits steht in der Bibeldidaktik eine adressatengerechte Vermittlung biblischer Traditionen hoch im Kurs, andererseits wissen wir wenig Gesichertes über die bei Schulkindern gegebenen kognitiven Rezeptionsmöglichkeiten. Pate gestanden hat bei der Arbeit von B.-S. die 1990 erschienene empirische Studie von A. Bucher über die Rezeption neutestamentlicher Gleichnisse bei Schulkindern, der sie ein den neutestamentlichen Wundergeschichten gewidmetes, eigenständiges Pendant zur Seite stellen möchte.

Zur Absicherung der Relevanz und Berechtigung einer empirisch-entwicklungspsychologischen Vorgehensweise wird zunächst ein Kapitel vorgeschaltet, das über Hintergründe und hermeneutische Implikationen der Untersuchung Rechenschaft gibt (II). Darin legt B.-S. ein Bekenntnis zu adressatenorientierter Bibeldidaktik unter Einbeziehung der Sozialwissenschaften, nicht zuletzt der Entwicklungspsychologie, ab. Gleichzeitig mahnt sie eine neue Hermeneutik an, die den Rezeptionsvorgang ernst nimmt. Der traditionellen Bibelwissenschaft gegen-über wird der Vorwurf erhoben, Bibeltexte ohne hinreichende Praxisrelevanz auszulegen und gleichzeitig zeitlose Objektivität solcher Auslegung zu reklamieren, indem das eigene Vorverständnis ausgeblendet wird. Dem wird das Axiom der Rezeptionsästhetik entgegengestellt, daß der Leser selbst den Textsinn im Leseakt erzeugen müsse und ein Text folglich eine Vielzahl von Sinnzuschreibungen zulasse. In die Exegese umgesetzt, bedeute dies ein Ende der vornehmlich diachron ausgerichteten Interpretation und eine bewußte Wahrnehmung dessen, daß der Ausleger ebenfalls ein Leser mit bestimmtem Vorverständnis ist.

Auch der Abschnitt über die Rezeption neutestamentlicher Wundergeschichten in der exegetischen Literatur (III) dient einer Absicherung der empirischen Studie. Im wesentlichen geht es B.-S. lediglich um den Nachweis, daß Wundergeschichten in der neuzeitlichen Bibelwissenschaft unterschiedlich ausgelegt wurden, folglich jede Bibelauslegung der Subjektivität unterworfen ist und damit im Sinne der Rezeptionsästhetik die prinzipielle Virtualität eines Textes als gesichert gelten kann. Zu diesem Zweck werden drei unterschiedliche Auslegungsmodelle vorgestellt. Die rationalistische und die redaktionsgeschichtlich orientierte Wunderauslegung ziehen die Kritik von B.-S. auf sich. Eine Betrachtung neutestamentlicher Wundergeschichten als geschichtlich fundiertem Angebot zur Deutung der Wirklichkeit hingegen wird positiv gewürdigt. Die Ankündigung auch historisch-exegetischer Studien im Untertitel wird nicht eingelöst, da Wundergeschichten von B.-S. hier ebenfalls nur gebrochen, d. h. im Spiegel ihrer Rezeptionsgeschichte behandelt werden. Exegetische Arbeit an neutestamentlichen Wundergeschichten ist von vornherein bewußt nicht beabsichtigt, nahezu alle wichtige neutestamentliche Wunderliteratur der letzten 15 Jahre fand keine Berücksichtigung. Insgesamt gewinnt B.-S. aus der aufgezeigten Pluralität der Wunderauslegung die wenig überraschende, übrigens auch Neutestamentlern nicht gänzlich verborgene Einsicht, daß Exegese vom jeweiligen Zeitgeist mitgeprägt ist und es zeitlos gültige Bibelinterpretation nicht gibt.

Der weitaus umfangreichste Teil der Arbeit (IV) ist dann der empirischen Studie gewidmet. Zunächst wird begründet, warum qualitative Sozialforschung die angemessene empirische Methodik darstellt (IV.1). Ein der Planungsphase gewidmeter Abschnitt (IV.2) reflektiert die Prämissen der empirischen Studie (Zugrundelegung von Rezeptionsästhetik und Entwicklungspsychologie), gibt über die Methodik Rechenschaft ab und begründet die Auswahl der in den Interviews zugrundegelegten Texte. In einem Zwischenschritt (IV.3) widmet sich B.-S. einer Charakterisierung der Entwicklungspsychologie, bevor sie die für ihre empirische Studie auswertungsrelevanten Entwicklungstheorien benennt und fundiert darstellt (IV.4). Im einzelnen handelt es sich um das Stufenmodell von F. Oser/P. Gmünder, die Weltbildentwicklungstheorie von R. Fetz/K. Reich/P. Valentin, die Theorie sozialen Verstehens von R. Selman und schließlich neuere Konzeptionen der Symbolwahrnehmung. Nach Erwägungen zur Auswertung der gewonnenen Daten (IV.5) schließen sich die Dokumentation und Interpretation der empirischen Studie an (IV.6). Es handelt sich um drei halbstandardisierte, problemzentrierte Interviews zu jeweils zwei neutestamentlichen Wundergeschichten, nämlich der Blindenheilung Lk 18,35-43 und dem Seewandel Jesu Mt 14,22-33. Geführt wurden die Interviews mit Probanden dreier unterschiedlicher, entwicklungspsychologisch bedeutsam erscheinenden Altersstufen, nämlich einem neunjährigen Schüler sowie einer dreizehnjährigen und einer zwanzigjährigen Schülerin. Eines der wichtigsten Ergebnisse besteht darin, daß jede der einschlägigen Entwicklungstheorien für sich genommen von begrenzter Erklärungskraft ist und erst eine Kombination aller vier, einander gegenseitig stützenden Entwicklungstheorien die Äußerungen der befragten Schüler zu den vorgelegten Wundergeschichten verständlich macht. Zudem zieht B.-S. aus dem Interview mit der zwanzigjährigen Schülerin den Schluß, daß die kognitive Weltbildentwicklung im frühen Erwachsenenalter deutlich "unfertiger" erscheint, als dies von vielen Entwicklungspsychologen angenommen wird.

Recht zurückhaltend gibt sich B.-S. in ihrer abschließenden Gesamtreflexion (V) im Blick auf die konkreten religionspädagogischen Konsequenzen ihrer empirischen Ergebnisse, indem sie ihre Studie maßgeblich als "Plädoyer für das Zuhören" in dem Sinne versteht, daß die Lehrenden das Denken der Schüler über Mutmaßungen hinausgehend realitätsgetreuer wahrnehmen. An dieser Stelle hätte man gerne noch mehr darüber erfahren, wie sich B.-S. die geforderte "Sensibilisierung für eine adressatengerechtere religionspädagogische Vermittlungsarbeit" für die Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten im einzelnen vorstellt und welche Konsequenzen dies für die Unterrichtsgestaltung haben könnte. Unter dem Strich handelt es sich um eine kompetente, methodisch ausgesprochen reflektierte Studie, deren schülerorientierter, empirisch-entwicklungspsychologischer Ansatz zu begrüßen ist. B.-S. vermittelt einen aufschlußreichen exemplarischen Einblick in die Rezeption neutestamentlicher Wundergeschichten bei Schülern unterschiedlicher Altersstufen, und ihre Ergebnisse erweisen sich für die Diskussion um die Didaktik biblischer Wundergeschichten von Gewinn.