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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

101 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schoen, Ursula

Titel/Untertitel:

Subsidiarität. Bedeutung und Wandel des Begriffs in der katholischen Soziallehre und in der deutschen Sozialpolitik. Eine diakoniewissenschaftliche Untersuchung.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1998. XVII, 250 S. 8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 13. Kart. DM 78,-. ISBN 3-7887-1634-7.

Rezensent:

Reinhard Turre

In dieser von Theodor Strohm angeregten Heidelberger Dissertation wird das erste Mal der Versuch für eine umfassende evangelische Würdigung des ursprünglich im Kontext katholischer Theologie proklamierten Subsidiaritätsprinzips vorgenommen. Dies ist in der heutigen Situation um so wichtiger, als man es mit einer durchaus ambivalenten Inanspruchnahme dieses Prinzips zu tun hat. Einerseits ist es in der europäischen Debatte nahezu zu einem Zauberwort geworden, um den Geist zentralistischer Bevormundung durch die europäischen Zentralen zu bannen. Andererseits hat das Verständnis für einen subsidiären Ansatz im Sozialwesen abgenommen, weil in Zeiten geringer zur Verfügung stehender finanzieller Mittel dirigistischer und bürokratischer in die sozialen Belange eingegriffen wird. Politisch haben wir es heute mit einer Aufwertung und sozial mit einer Abwertung des Subsidiaritätsprinzips zu tun.

Ursula Schoens Arbeit kommt gerade recht, um der politischen Instrumentalisierung im europäischen und im nationalen Rahmen zu widerstehen. Darüber hinaus zeigt die gründliche Arbeit, in welch erfreulichem Maße sich die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik auch in diesem Punkt annähern. Dies gilt um so mehr, als das Prinzip immer weniger dem Schutz katholischer Verbände dient und immer mehr zur Herausforderung wird, daß die einzelnen Bürger und ihre Vereinigungen eigenständig tätig werden sollen. Für diesen Zweck ist es "auch für die evangelische Sozialethik ein wichtiges und aussagefähiges Prinzip sozialer Gestaltung" (199).

Die Arbeit hat neun Teile. Der aktuellen Einführung folgen vier Teile, in denen die Ursprünge und Entfaltung des Subsidiaritätsprinzips in der katholischen Kirche dargestellt werden. Seine Aufnahme in die deutsche Sozialgesetzgebung ist ein wichtiger Grund für die Auseinandersetzung mit ihm auch im evangelischen Raum. Mit besonderer Aufmerksamkeit darf der Teil über die "neue" Subsidiarität in den achtziger und neunziger Jahren rechnen.

Die Arbeit wird abgeschlossen mit Überlegungen zur Bedeutung des Prinzips für die Diakonie und Diakoniewissenschaft. Die Vfn. verzichtet auf eine ethische Bewertung des Subsidiaritätsprinzips und konzentriert sich auf die Systematisierung und Darstellung der Literatur und Lehräußerungen zum Thema. Hier liegt eine Grenze der Arbeit, der sich Sch. bewußt ist (16). Ausgeblendet bleibt auch die von Sozialwissenschaftlern vorgebrachte Kritik an der Wertebindung konfessioneller Gruppen und Vereine und deren Absicherung durch eine dem Subsidiaritätsprinzip verpflichteten Gesetzgebung (s. hierzu z. B. die Arbeiten von Thomas Olk). Dagegen finden die staatsrechtlichen zustimmenden Arbeiten von Roman Herzog, J. Isensee und O. Kimminick mit Recht besonderer Beachtung (168 ff.).

Exemplarisch soll hier auf den Teil der Arbeit näher eingegangen werden, der den evangelischen Stimmen zum Subsidiaritätsprinzip gewidmet ist. Nach dem positiven Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1967 gilt es ja auch für die evangelischen Einrichtungen, ihre Kooperation mit dem staatlichen Sozialwesen näher zu bestimmen. Dabei erwies sich der im Gefolge jenes Urteils behauptete bedingte Vorrang der freien Wohlfahrtspflege vor den staatlichen sozialen Angeboten als äußerst anregend für das Wachstum der freigemeinnützigen Arbeit gegenüber den öffentlichen örtlichen und überörtlichen Trägern sozialer Arbeit. Deshalb hat Sch. mit Recht die eher positive Aufnahme des Prinzips im evangelischen Raum durch Cordes, Philippi, Krimm und vor allem Collmer und die eher kritische Wertung durch von Hase ausführlich dargestellt (174 ff.). Auch aus dem evangelischen Raum wurde zunehmend vor der Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates auf alle Lebensbereiche des Bürgers gewarnt (178 f.). Andererseits mußten evangelische Vertreter der freien Wohlfahrtspflege katholische Verbandsvertreter warnen, das Subsidiaritätsprinzip einseitig als Begründung für die ausschließliche Förderung katholischer Verbände zu beanspruchen (180 ff.). Sie plädierten stärker für die Partnerschaft von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege (185 ff.). In der Denkschrift "Die soziale Sicherung im Industriezeitalter" (1971) fand das Subsidiaritätsprinzip erstmals offizielle Anerkennung auch in der Evangelischen Kirche.

Sch. referiert diese Denkschrift ebenso ausführlich wie in den ersten Teilen ihres Buches die katholischen Sozialenzykliken (189ff.). In der Interpretation arbeitet sie den Zusammenhang von Subsidiarität und Solidarität, aber auch die Mündigkeit des Hilfebedürftigen nach der evangelischen Anthropologie heraus. Die Annäherung von katholischem und evangelischem Denken wird nach Sch. in dem Maße möglich, wie sich die katholische Soziallehre von dem Naturrechtsdenken löst und sich für die biblische Anthropologie öffnet (195 f). So wird es möglich, den Hilfebedürftigen aus der Rolle des hilflosen Objektes sozialen Handelns zu befreien und ihm die Möglichkeit des eigenverantwortlichen Umgangs mit seiner Not zu eröffnen (196). Sch. schließt ihre Arbeit ab mit der Feststellung: "Das Subsidiaritätsprinzip ist kein ’evangelisches’ Prinzip. Es kann aber dazu beitragen, der evangelischen Sicht des Menschen als Person in den Strukturen helfenden Handelns Ausdruck zu verleihen" (233). Die von ihr vorgelegte Arbeit ist ein gelungener Beweis dafür, daß sie damit recht hat. Wer die diakonische Arbeit auch politisch zu vertreten hat, dem sei die Lektüre dieses Buches nachdrücklich empfohlen.