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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

983–986

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Laepple, Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Messianische Juden – eine Provoka-tion. M. Beiträgen v. R. Harvey, P. Hirschberg, Ul Laepple, H. Rucks, S. Schönheit, H.-J. u. R. Scholz.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. 159 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-7887-3055-0.

Rezensent:

Theo Sundermeier

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Harvey, Richard: Messianisch-jüdische Theologie verstehen. Erkundung und Darstellung einer Bewegung. Hrsg. v. B. Schwarz. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2016. XX, 348 S. = Edition Israelogie, 7. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-631-64166-8.


Das Thema »Judenmission« scheint in der EKD abgehakt zu sein, ob zu Recht oder Unrecht, sei dahingestellt. Dass wir Deutschen auf dieses Thema besonders sensibel reagieren, ist selbstverständlich. Doch nun wird von anderer, nicht erwarteter Seite eine Gegenstimme laut, von jüdischer Seite, von Christen, die ihr Judesein nicht verleugnen und ablegen wollen. Auch wenn das bei uns Irritationen verursacht und Kirchenführern Sorgen bereitet, wie das rabbinische Judentum darauf reagieren wird, es ist wichtig und theologisch notwendig, auf die Stimme der messianischen Juden zu hören. Sie lenken unsern Blick zurück und appellieren an Erinnerungen an die ersten Christen.
Seit einer Podiumsdiskussion auf dem Stuttgarter Kirchentag 2015 zwischen Bischof Meister, M. Brumlik und dem messianischen Juden R. Harvey wird die Existenz messianisch-jüdischer Gemeinden in Deutschland seitens der EKD stärker wahrgenommen. Bis dahin waren es vornehmlich evangelikale Kreise, die ih­nen die angemessene Aufmerksamkeit schenken und ihre Existenz theologisch begrüßen. Weder von den Großkirchen noch vom rabbinischen Judentum werden sie jedoch akzeptiert. Offenbar be­steht die Furcht, dass der bis dahin mühsam erreichte friedliche Dialog zwischen den evangelischen Kirchen und dem deutschen Judentum bedroht und in Frage gestellt wird, sollten die Kirchen sie in ihrer Mitte aufnehmen und eine ökumenische Verbundenheit herstellen. Dazu lädt der von Ulrich Laepple herausgegebene Sammelband mit guten Gründen ein. Alle seine Autoren sind engagiert im christlich-jüdischen Dialog, aber sie sind auch der Überzeugung, dass das Gespräch mit den messianischen Juden Leben und Theologie der Kirchen bereichern würde.
Eine kurze Übersicht über die Geschichte »Jesusgläubiger Juden in Geschichte und Gegenwart« gibt H. Rucks (13–26), deren informative Dissertation über »Messianische Gemeinden in Israel« (2014) unbedingt zur Kenntnis genommen werden sollte. Sie verweist wie auch die anderen Autoren zu Recht auf die innere Verflochtenheit von Christen und Juden in der ersten Christenheit. Das Phänomen ist also nicht neu, doch die abendländische Geschichte und zumal die Shoah haben dieses Band radikal zerstört.
Einer der größten »Stolpersteine« für eine »normale« Beziehung zu Juden und messianischen Juden ist die »Judenmission«, von der der Stuttgarter Rabbiner J. Berger sagte, dass sie für ihn »Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln« ist. Ein fataler Satz! H. Rucks, die dieses Zitat bringt, stellt sich sehr abgewogen dem Thema (109–125). Zu Recht betont sie, wie viele ungeklärte Fragen in diesem Begriff stecken. Deutlicher als bisher müsse zwischen »Missionspraxis«, »Haltung« und »Theologischen Grundansichten« un­terschieden werden (117–119), wie denn auch missionstheologisch das Verhältnis der Trias »Mission, Evangelisation, Dialog« in ihren Augen noch lange nicht geklärt ist. Das Thema »Mission« wird in den verschiedenen messianischen Gemeinden unterschiedlich ge­braucht, begründet durch die Situation, in der sie sich befinden (ob in den USA, in Israel, in der Ukraine oder in Deutschland). H. Rucks hält sich mit Antworten oder Vorschlägen zurück, dafür stellt sie wichtige Fragen und hofft, dass in den »kommenden Jahren Plattformen […] entstehen, in denen eine Vertrauen aufbauende Begegnung aller drei Seiten möglich wird und die vorliegenden Fragen beantwortet werden« (123).
Alle Autoren des Buches sind von der bleibenden Erwählung und dem ungekündigten Bund Gottes mit Israel überzeugt. Entsprechend deutlich ist der Text von U. Laepple, »Teilhabe und Teilnahme der Messianischen Juden an der Erwählungs- und Bundesgeschichte Israels« (42–70). Der Bezug auf Röm 9–11 ist hier ebenso zentral wie im Beitrag von P. Hirschberg »Messianische Juden: Gefahr oder Chance für den christlich-jüdischen Dialog« (71–108, dort 89–95). Während Hirschberg mehr die praktischen Fragen des Dialogs und der Beziehung zu den messianischen Juden bedenkt, will Läpple ein biblisches Fundament für die Begegnung legen. Dabei fällt auf, dass hier und in den anderen Texten nur wenig Bezug auf das Matthäusevangelium genommen wird. Dabei ist es doch das Evangelium, das im Ostjordanland/Syrien in einer judenchristlichen Gemeinde entstanden ist (G. Theißen, U. Luz u. a.) und die Juden davon überzeugen will, dass die Christen die jüdische Ethik sehr ernst nehmen und le ben, ja, dass sie die eigentliche, die »bessere« jüdische Gerechtig-keit vertreten und ein Bekenntnis zu Jesus keine Trennung vom Judentum bedeute. Der Band will eine »Ermutigung zur Begegnung« mit den messianischen Gemeinden sein, so expressis verbis der Text von R. u. H.-J. Scholz (101–156), der von den vielfältigen, bereichernden Begegnungen berichtet.
Die bisher genannten Autoren schreiben als kirchlich gebundene Christen, allein R. Harvey, selbst führend tätig in den Dialogkonferenzen, berichtet aus einer »Insider-Perspektive« über das messianische Judentum (27–42). Er nimmt ausdrücklich Stellung zum Problem des messianischen Judentums »im deutschen Kontext« (127–139) – »Gedanken eines Beobachters«, wie er sagt. Harvey schlägt erste Verstehensschneisen in das kaum auf einen Nenner zu bringende vielfältige Erscheinungsbild messianischer Gemeinden. Jedoch kann generell gesagt werden, dass die ca. »150000 Jesus-gläubige Juden« (31) u. a. folgende Gemeinsamkeiten haben: Sie halten »in unterschiedlichem Grad« den Sabbat, »halten die jüdischen Essenvorschriften ein, beschneiden ihre Söhne und feiern die jüdischen Feste […] beim Feiern der Taufe stellen sie die Verbindung zur jüdischen mikveh dem rituellen Reinigungsbad her« (31).
Der unterschiedlich gehandhabten Praxis jüdischen Verhaltens im messianischen Glauben entsprechen unterschiedliche theologische Überzeugungen und Begründungen. Die hat Richard Harvey in seiner breit angelegten, für den Druck überarbeiteten Dissertation »Messianisch-jüdische Theologie verstehen« entfaltet. Dabei gilt, wie er lakonisch feststellt: zwei Juden – drei Meinungen – oder auch mehr! Die Suche nach einer Definition dessen, was messianische Juden sind und darstellen, läuft ins Leere. Dazu ist die Vielfalt der Überzeugungen zu groß. Eines nur haben sie gemeinsam: Ihr Glaube an den Messias, der sie nicht vom Judentum trennt, soll in jüdischen Denkformen und Kategorien ausgedrückt werden. Die Befreiung von griechischer Philosophie ist ebenso zentral wie die Bindung an die biblischen Texte. Gerade darin sehen manche ihrer Vertreter auch ihren Beitrag, die Kirchen wieder näher an ihren Ursprung, das Judentum, zu führen. Bilden die messianischen Ge­meinden dann so etwas wie eine Brücke zwischen Kirchen und Judentum? Bisher jedenfalls konnten ihre Vertreter nicht diesen Weg beschreiten, er hat nur Irritationen hervorgerufen.
H. versucht nicht die verschiedenen Positionen zu einer ge­meinsamen Theologie systematisch zu vereinen, sondern er zitiert zu den verschiedenen theologischen Topoi die unterschiedlichen, relevanten Äußerungen. Überraschende Einsichten kommen dabei zutage. So zitiert er z. B. zu dem im christlich-jüdischen Dialog so schwierigen Thema »Trinität« und »das Einssein Gottes« (74 ff.) B. Maoz, »Lessons on the Doctrine of God« (1997):
»Die Bibel benennt einen Einsamen, allein Seiende mit dem hebräischen Wort YACHID (Gen.22,2). Aber das ist nicht das Wort, das sie allgemein benutzt, um Gott zu beschreiben. Das gebräuchlichere Wort ist ECHAD. ECHAD bedeutet mehr als nur ›einer‹, es bedeutet einen zusammengesetzten Einen. Wir lesen z. B. dass der Abend und der Morgen sich verbinden und den einen Tag bilden (Gen.2,24) […] Das ähnelt ein bisschen dem, wie Gott ist«.
Von zentraler theologische Bedeutung ist fraglos, ob und wie die Christologie zugleich in jüdischen Begriffen, d. h. nicht nur in he­bräischen Wörtern, sondern in hebräischen Denkkategorien« ausgedrückt werden kann (151). Überzeugende emergente Christologien, die dem Genüge tun, sind bisher kaum in Sicht (115 ff.). Verwirrend uneinheitlich ist auch die Diskussion um die Bedeutung der Tora in den vorliegenden dogmatischen Entwürfen (155–202). Das Kapitel »Tora in der Praxis« (203–244) lässt alle Variationen der Übernahme von rituellen und ethischen Verhaltensweisen zu. Aber sind die strengen ethischen Vorschriften und rituellen Begehungen nicht gerade Kennzeichen des Judentums und haben sie nicht seine Iden-tität – aus der man sich ja nicht entfernen will – über die Jahrhunderte bewahrt?
H. scheut sich nicht, auch die politisch relevante Seite messianischer Theologien anzusprechen, die Bedeutung und Zukunft Israels (245–288). Es ist dieses Thema, das für evangelikale Kreise in Deutschland attraktiv ist und ein Grund dafür, sich den messianischen Ge­meinden verstärkt zuzuwenden. Doch auch hier herrscht Vielfalt der Überzeugungen.
Was prägt die Gemeinden? Dispensationalistische Prämillenianismus, Postmillenialismus, Messianischer Amillenialismus etc.? Das Verhältnis Israels zu den Palästinensern kommt gelegentlich kritisch zur Sprache. Das Ergebnis bleibt verwirrend wie bei allen anderen theologischen Topoi.
Wie das Judentum sich immer gewehrt hat, einen einer Dogmatik entsprechenden systematischen Gesamtentwurf seines Glaubens zu entwerfen, so zieht auch H. keine Quersumme. Stattdessen übernimmt er ein von den Missionswissenschaften her bekanntes Ordnungsschema: die Suche nach »Modellen« Interkultureller Theologien. Er nennt sie »Typen« (ein unglücklich gewählter, weil unprä-ziser Begriff) messianisch-jüdischer Theologie. Von denen filtert er acht heraus. Das ist in der Tat hilfreich, denn auf diese Weise ist zu­mindest eine gewisse Ordnung in den theologischen Prägungen zu erkennen: 1. Jüdisches Christentum, christozentrisch und reformiert; 2. Dispensationalistisches hebräisches
Chris­tentum; 3. Israelisch national und auf Wiederherstellung ausgerichtet; 4. neutestamentliche Halacha, charismatisch und evangelikal; 5. Traditionelles Judentum und der Messias; 6. Postmissio-narisches messianisches Judentum; 7. Rabbinische Halacha im Licht des Neuen Testaments; 8. Messianische rabbinische Orthodoxie (295–306).
Auf die Emergenz einer übergreifenden, alle Strömungen verbindenden Theologie werden wir wohl vergebens warten, aber das macht vielleicht den Charme der Vielfalt dieser Theologien aus, dass sie jeweils vor Ort relevant sind und die Kirchen bereichern können. H.s Buch ist dafür ein »eye opener«.