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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

982–983

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kirchenamt der EKD [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freiraum und Innovationsdruck. Der Beitrag ländlicher Kirchenentwicklung in »peripheren Räumen« zur Zukunft der evangelischen Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 421 S. = Kirche im Aufbruch, 12. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03885-5.

Rezensent:

Ralf Kötter

Der ländliche Raum erfährt in Theologie wie Kirchenpraxis eine große Aufmerksamkeit. Das Interesse beruht auch auf der Beobachtung, dass gerade unter wachsendem Leidensdruck in peripheren Räumen visionäre Ansätze entstehen, die auch der Suche nach neuen Kirchenbildern im urbanen Kontext dienlich sind. Genau diesem Mehrwert widmet sich diese EKD-Studie.
Der EKD ist es dabei gelungen, zwei sehr unterschiedliche theologische Ansätze miteinander ins Gespräch zu bringen. Es handelt sich einerseits um die Bonner Studie »Aufsuchende Analyse«, die insbesondere mit dem Namen Eberhard Hauschildt verbunden ist und auf einem volkskirchlichen Grundansatz basiert. Andererseits werden Ergebnisse der Greifswalder Studie »Landaufwärts« dargestellt, eines dezidiert missionarischen Ansatzes, der in besonderer Weise mit den Namen Michael Herbst und Thomas Schlegel ver bunden ist. Mit dieser kommunikativen Anlage leistet der EKD-Band einen wesentlichen Beitrag zum innerkirchlichen Dialog. An die Stelle theologischer Exklusivansprüche und gegenseitiger Dis­tanzierungen tritt der Diskurs. Dass gerade solch ein offener Diskurs sehr verlässlich zu konstruktiven Ergebnissen führt, zeigt die EKD-Studie in beeindruckender Weise.
Der Bonner Beitrag lenkt an zehn Praxisbeispielen die Aufmerksamkeit auf verheißungsvolle Rahmenbedingungen volkskirchlicher Strukturen im Wandel. Kirche als Institution und Organisa-tion stellt mit ihrer Logistik und Professionalität stabilisierende Komponenten für innovative Experimente bereit. In der Analyse werden aber auch die Schwächen volkskirchlicher Präsenz deutlich, insbesondere die signifikante Tendenz zum Leitbild einer Versorgungskirche, die lediglich auf Rückbau und Ressourcenverknappung reagiert (157 u. ö.). Im Mittelpunkt des Interesses, alte Strukturen in einem neuen Kleid zu bewahren, steht vornehmlich das gottesdienstliche Leben der Gemeinden (52 u. ö.).
Die Greifswalder Studie wertet zwölf missionarische Projekte aus und legt einen besonderen Schwerpunkt auf lokale Wirkungen alternativer kirchlicher Präsenz. Gerade in diesen unterschiedlichen Perspektiven befruchten sich nun beide Studien gegenseitig: Die Wertschätzung struktureller und organisatorischer Ressourcen (Bonn) ergänzt den isolierten Blick in den einzelnen Raum hinein (Greifswald), die weitgehende Reduktion auf ein auslaufendes Versorgungsmodell (Bonn) wird durch neue Formen kirchlicher Präsenz im Raum befruchtet (Greifswald). Am Ende ergeben sich tatsächlich überraschende Schnittmengen beider Ansätze: Eine un-bedingte Kontextsensibilität wird eingefordert, Partizipation als leitendes Bildungs-Paradigma wertgeschätzt, notwendige In­novationen im Pfarrbild und damit in der Ausrichtung von Aus-, Fort- und Weiterbildung werden mit Recht angemahnt und landeskirchliche Förderungen von experimentellen Erprobungsräumen als verheißungsvoll empfohlen (was aus den Erfahrungen vieler landeskirchlicher Projekte in Bayern, Hessen, Hannover und weit darüber hinaus be­reits bestätigt werden kann). Gemeinsame Visionen unterschied-licher theologischer Ansätze generieren inspirierende und praxisrelevante Beiträge zur Diskussion um die Zukunft der Kirche.
Bereits in den einleitenden kirchentheoretischen Vorüberlegungen werden aber auch bleibende Unterschiede benannt (34 ff.). Unübersehbar ist die Unschärfe des Missionsbegriffs im mühsamen binnenkirchlichen Diskurs. Aus Bonn werden Vorbehalte im Ringen um plurale Teilhabemöglichkeiten an volkskirchlichen Prozessen geäußert, der Begriff der »Kommunikation des Evan-geliums« wird deshalb bevorzugt. Greifswald plädiert für eine offene Kirche für andere (325 u. ö.) und möchte die alte Konfrontation im Missionsbegriff (Evangelisation vs. Teilhabe an der Missio Dei) durch eine komplexe Neudefinition überwinden. Mission entfaltet sich dann in vielen Facetten und hat evangelistische, diakonische, kulturelle oder sozialgesellschaftliche Interessen, wobei alle Module zunächst gleichberechtigt nebeneinander stehen. Dass aber ein Zurücktreten evangelistischer Praxis aus Greifs-walder Sicht als defizitär wahrgenommen wird (302), überrascht dann doch. Erst nach mehrmaligem Austausch nähert man sich auf Bonner Initiative hin dem Begriff der »Konvivenz«, mit dem Theo Sundermeier einen bahnbrechenden Ansatz geliefert hat (386.397). Der breite Raum, den dieses sensible Ringen um einen Konsens im ganzen Band einfordert, ist ein Indiz dafür, wie verunsichernd ein immer komplexer und damit immer unschärfer werdender Missionsbegriff schon im binnenkirchlichen Diskurs sein kann.
Noch fragwürdiger wird der Missionsbegriff, wenn sich Kirche– dem Duktus beider Studien konsequent folgend – als Stakeholder im Sozialraum begreift. Eine solche »Kirche mit anderen für andere« verlangt eine absolute Transparenz und begriffliche Klarheit, denn nur so kann im offenen Prozess mit anderen Akteuren gegenseitiges Vertrauen wachsen. Kann aber ein Missionsbegriff, der bereits binnenkirchlich missverständlich diskutiert wird, im säkularen Dialog vertrauensbildend sein? Wer schon einmal an einem runden Tisch zur Flüchtlingsarbeit teilgenommen und da­bei erlebt hat, wie sensibel Gesprächspartner aus Politik und Zivilgesellschaft auf missionarische Ansprüche reagieren, kann diese Bedenken aus der Praxis heraus vielleicht nachvollziehen.
Um solche kontraproduktiven Begriffsunschärfen einer Kirche mit anderen für andere langfristig zu vermeiden, wäre die Verständigung auf einen symmetrischen Bildungsbegriff hilfreich. Die noch sehr vorsichtige Annäherung an das Leitbild »Konvivenz« weist deshalb in die richtige Richtung. Wünschenswert ist nun eine Erweiterung des Diskurses auf fast deckungsgleiche Erkenntnisse aus Diakonie- und Bildungswissenschaften. Und auch im ökumenischen Dialog bestätigen gleichlautende Praxiserfahrungen der katholischen Landpastoral die Tendenz der beiden evangelischen Studien. Das dialogische Miteinander aller kirchlichen Kompetenzen wäre jedenfalls unverzichtbare Voraussetzung für eine offene Kommunikation mit allen anderen Akteuren im Sozialraum.
Dass aber die heilige Geistkraft gerade in solchen kontextsensiblen und prozessorientierten Bildungsansätzen ihre unwiderstehliche Kraft entfaltet, darauf darf mit allem Recht fröhlich gehofft werden. Die vielfältigen Praxisbeispiele des EKD-Bandes liefern da­für eindrucksvolle Belege.