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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

969–971

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zunke, Klaus-Dieter

Titel/Untertitel:

An der Seite der Soldaten. Der seelsorgerlich-missionarische Dienst evangelischer Werke, Verbände und Freikirchen als eigenständige Soldatenseelsorge (1864–2011). M. Geleitworten v. H. Steeb u. Ch. Bader.

Verlag:

Münster u. a.: LIT-Verlag 2017. 299 S. m. zahlr. Abb. = Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft, 34. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-13632-9.

Rezensent:

Jobst Reller

Klaus-Dieter Zunke legt dankenswerterweise eine unter Begleitung von Johannes Zimmermann (Greifswald) erstellte Monographie zu einem weitgehend vernachlässigten Feld der Militärseelsorge vor – der Soldatenseelsorge, die evangelische Verbände, Werke und Freikirchen verantworteten, beginnend mit Vereinstätigkeit etwa der »Evangelischen Allianz« oder des »CVJM« im 19. Jh., zuletzt von 1987 bis 2005 in der »Arbeitsgemeinschaft Soldatenseelsorge« (AGS) in der Bundeswehr. Diese Arbeit stand zwar in enger Verbindung zu den staatlich und landeskirchlich getragenen Militärseelsorgen, ist selbst aber frei im Blick auf Staat und Landeskirchen. Insofern hat der Vf. den Begriff »zivilkirchlich« geprägt, der hinsichtlich der Organisation der Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland durch den Militärseelsorgevertrag 1957 (153 ff.) nicht trennscharf ist. Auch hier übernehmen die »zivilen«, vom Staat getrennten Landeskirchen die Verantwortung für Leben und Lehre ihrer Militärseelsorger, während der Staat für die Infrastruktur der Arbeit der Militärseelsorger als Staatsbeamter auf Zeit sorgt.
Methodisch zeichnet der Vf. eine Kirchengeschichte der evangelischen Soldatenfrömmigkeit vom deutsch-dänischen Krieg 1864 bis zur Auflösung der AGS 2005. Natürlich wird untergründig praktisch-theologisch auch eine besondere Gestalt einer Gruppen- oder Institutionsseelsorge deutlich. Der Vf. umreißt diese selbst mit folgenden Worten: »So hoffe ich, dass diese Arbeit […] zu Vertrauen in Gottes Wort, das Gebet, hilfreiche Gemeinschaft und tröstende wie orientierende Seelsorge ermutigt« (13). Am Ende stehen Fragen u. a. nach einer Anerkenntnis einer »missionskirchlichen Situation« für die Militärseelsorge und der Existenz von Kirche als Gruppe, einer »Konvivenz« mit Soldaten als Teil des Selbstverständnisses der zeitweise wirkmächtigen Corneliusvereinigung. Kirchengeschicht-licher Rückblick mit praktisch-theologischer Perspektive fordert Entscheidungen für eine zukünftige Organisation geradezu heraus (255). Der Fragehorizont des Vf.s lässt sich nicht auf eine klassische theologische Disziplin beschränken, verbindet kirchengeschichtliche, praktisch-theologische und organisatorische Ge­sichtspunkte.
Die Geschichte evangelischer Soldatenfrömmigkeit untergliedert sich entsprechend den beiden großen Katastrophen zweier Weltkriege in drei Phasen, a) 1864–1918, b) 1919–1945 und c) die Zeit danach. Für die erste Phase konstatiert der Vf. zwei Dimensionen, eine missionarische des Wortes und eine individualethische der Tat (56 ff.). Am Gründer des Verbands gläubiger Offiziere Georg von Viebahn (1840–1915) lässt sich dies exemplifizieren. Mutige Entschiedenheit im Glauben korrespondierte soldatischem Mut. Das Gleiche galt für Gehorsam und Treue. Entscheidung für Jesus, Begnadigung und Erneuerung des Sünders waren zentral. Moralische Rigorosität in Fragen von Sexualität und Ehe, des Duells zogen a uch das Ja zum Kriegsdienst, dazu »an der Front zu stehen, zu kämpfen und, wenn es sein sollte, zu fallen«, nach sich, um die Familien in der Heimat zu schützen. In der Tradition von Befreiungskriegen und Erweckungsbewegung war auch die eigene Le­benshingabe eingeschlossen. Von Viebahn entschied sich 1905, die institutionelle Bindung zur evangelischen Landeskirche aufzugeben und zu wirken, ohne einer kirchlichen Institution anzuge-hören (42–46).
Stellvertretend für die zweite Phase steht Generalmajor Hans Graf von Kanitz (1893–1968), der durch seine seelsorgerlichen, bis zu 400 Empfänger unmittelbar erreichenden Rundbriefe, die Sternbriefe, ab 1940 wirkte (82). Das eigene Überleben und das der Kameraden war zentral. »Immer wieder taucht die thematische Spannung von ›Soldat- und Christsein‹, das heißt zwischen der militärischen Pflicht und existentiellen Bedrohung einerseits und der im gelebten Glauben gegründeten Lebenshoffnung andererseits auf« (84). Dabei reichte schon das »Dass« christlicher Orientierung, um in den Verdacht mangelnder Staatstreue zu geraten. Zwei Empfänger der Sternbriefe wurden nach dem 20.7.1944 hingerichtet. Kanitz versuchte die oben skizzierte Auffassung mit der Konsequenz der geforderten Lebenshingabe festzuhalten: »Der christliche Soldat ist aber in zweifacher Hinsicht Kämpfer, einmal als deutscher Soldat in unserer großen Wehrmacht, und dann als Soldat, als Kämpfer Jesu Christi. […] Wir haben zweierlei Vorgesetzte: unseren militärischen Vorgesetzten für den irdischen Kriegsdienst und unseren Herrn Jesus für den Ewigkeitsdienst« (87). Der Vf. skizziert den Inhalt der Sternbriefe unter drei Themen: a) »Der Wert der soldatischen Gemeinschaft«, b) »Spiritualität in extremer zeitgeschichtlicher Herausforderung« und c) »Soldat und Christ im ideologischen Umfeld« (100).
Kanitz, im Dezember 1944 unehrenhaft aus der Wehrmacht entlassen, ist nun interessanterweise derjenige, der auch für die dritte Phase einen entscheidenden Gedankenfortschritt formuliert. An­gesichts der Aufstellung der Bundeswehr schreibt er für die Korneliusbruderschaft: »1. Wir alle wünschen mit heißem Herzen, dass uns und der Welt ein neuer Krieg erspart bleibt und wollen tun, was in unseren Kräften steht, um ihn zu verhindern. 2. Wir alle wollen für den Frieden beten. […] 4. Bei der Frage der Beteiligung an einem Krieg zur Verteidigung der Heimat steht der Christ in einem G ewissenskonflikt: Kriegsdienstverweigerung – oder: Beteiligung am Krieg mit der großen Wahrscheinlichkeit, sich gegen Christi Geist und Gebot zu versündigen. 5. Jeder einzelne muss sich bei der schweren Entscheidung von seinem Gewissen leiten lassen, […]« (179). Kriegsvermeidung, Zugeständnis der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, Selbstverpflichtung zum Wirken für den Frieden in Gebet und Tat – diese Stichworte markieren die Überwindung eines alten und überhöhten soldatischen Ethos der Lebenshingabe. Ja, die Aufgabe der Friedensethik entspringt aus der spirituellen Erfahrung zweier Weltkriege!
Besonderes Interesse verdient auch der Abschnitt zur zivilkirchlichen Soldatenseelsorge unter den Bedingungen der Wehrpflicht in der Nationalen Volksarmee der DDR (121–150). Der Vf. begibt sich hier auf wissenschaftliches, bisher nicht bearbeitetes Neuland. Angesichts der faktischen Feindschaft des Staates gegenüber Glauben und Kirche konnten auch die Landeskirchen nicht anders als »zivilkirchlich« zum Dienst verpflichtete Soldaten, die auch Chris­ten sein wollten, außerhalb der Kasernen durch die Friedensarbeit der Ortsgemeinden zu begleiten. Dabei geschah vieles in ökume-nischen Netzwerken, zum Teil im Untergrund. Das Moment des Glaubensbekenntnisses war stärker akzentuiert.