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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

967–969

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weyen, Frank

Titel/Untertitel:

Kirche in der strukturellen Transformation. Identität, Programmatik, organisatorische Gestalt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. 432 S. Kart. EUR 60,00. ISBN 978-3-7887-3085-7.

Rezensent:

Kolja Koeniger

Die kirchentheoretische Debatte um Wesen und Gestalt der Kirche erweist sich innerhalb der Praktischen Theologie als ausgesprochen produktiv und gewinnt in Gestalt von Frank Weyens Kirche in der strukturellen Transformation eine weitere, programmatisch profilierte Stimme hinzu. Die in Zürich angenommene Habilitationsschrift wagt einen »weiten Bogen« (393) entlang der Forschungsfrage: »Welche kirchliche Organisationsform ist für die evangelischen Kirchengemeinden im deutschsprachigen Raum unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Transformationsprozesse die geeignete Form für das 21. Jahrhundert?« (27) In sieben übersichtlich gegliederten Kapiteln, die grundsätzliche Erwägungen wie empirische Befunde aufeinander beziehen, entwirft sie eine eigene Antwort darauf.
Unter dem Stichwort der »Postmoderne« werden zunächst jene Transformationsprozesse skizziert, denen sich kirchliches Handeln gegenwärtig ausgesetzt sieht. Sorgfältig abwägend begründet W. seine Präferenz für die Individualisierungsthese (T. Luckmann) als demjenigen »Trend«, welcher die religiöse Selbstbestimmung nachhaltig prägt (108). Mit Urbanität – hier als »Lebensart« verstanden (H. Lefebvre) – identifiziert W. dasjenige Moment, welches die gesellschaftlichen Zusammenhänge entscheidend beeinflusst (124 ff.). Beide Dynamiken beförderten die für die Postmoderne charakteristische »plurale Vielgestaltigkeit gesellschaftlicher Teil- und Funktionssysteme« (21), in denen sich das autonome Individuum (E. Durkheim) wiederfinde.
Angesichts der Transformationsprozesse gerate die Kirche unter einen »Anpassungsdruck« (23), der zur Reflexion ihres Selbstverständnisses nötige. Diese Diagnose markiert den kirchentheoretischen Ausgangspunkt der Studie. W. differenziert dazu zwischen einer »vertikal-ekklesiologischen« und einer »horizontal-soziologischen« Dimension (48 f.), die er beide auf die sozial verfasste Kirche bezieht: Man müsse »konsequent nur die sichtbare Kirche als die einzige Kirche Jesu Christi bezeichnen« und sie entsprechend als »Theorie der Sozialformen« (vgl. Chr. Grethlein) darstellen (69). Mit N. Luhmann und J. Hermelink argumentiert er, dass Kirche qua Mitgliedschaftsprinzip und festen Strukturmerkmalen den soziologisch-formalen Kriterien einer Organisation genüge (192). Seine Position gewinnt ihr wesentliches Proprium durch eine »neoinstitutionalistische« Zuspitzung: Der »Neoinstitutionalismus« zeige sich um »die Ausgrenzung des Ökonomismus aus der Organisationstheorie« bemüht (109). Ökonomische Diskurse werden folglich als sachfremde »Nebencodes« (Luhmann) disqualifiziert, die »die genuin kirchliche Sprachwelt zu ersetzen« drohen (267). W. unterstreicht damit seine »Kernforderung«, dass die »Theologie die prägende Kategorie (Programmatik) in der kirchlichen Praxis« werden müsse (205) und entsprechend »normierend[e] Begriff[e] der Ökonomie« genauso wie »juristisch[e] Argumentationslinien« durch »traditionell theologische Synonyme wie Mission und Spiritualität« ersetzt werden sollten (220.255 f.). Er stellt in Aussicht, dass die Identitätskrise der Kirche, welche sich in weitgehend wirkungslosen Reformbestrebungen widerspiegle (23), durch ein theologisch qualifiziertes Identitätsangebot überwunden werden könne.
Inhaltlich bewegt sich diese Position in der Nähe der Reform- und Ökonomiekritik etwa seitens I. Karle und Chr. Meyns. Kirchentheoretisch beschreitet W. eigenständige Wege, indem er die Organisation Kirche durch zwei »organisationstheoretische Korrelationen« funktional konkretisiert: eine institutionelle Korrelation im Sinne einer »intermediären Gesellschaftskirche« (275 ff.) stehe einer operativen in Gestalt der »Gemeindekirche« (285 ff.) zur Seite. Als Gesellschaftskirche verabschiede sich die Kirche von ihrem (auch sprachlich) überkommenen Anspruch als »Volkskirche« (276 f.) sowie der Illusion eines flächendeckenden Parochialprinzips (284.299) und wage die Preisgabe ihrer staatskirchenrechtlichen Privilegien als Körperschaft öffentlichen Rechts (208.221). Sie erfülle ihre Funktion in Form eines öffentlichen »Wächteramtes« im »Dienst der Versöhnung« (279 f.). Die operative Gemeindekirche gestalte sich demgegenüber als »familiales Feld« (P. Bordieu), das durch »bergende Vertrauensstrukturen« alle »Komponenten für eine gelingende Antwort […] auf die Erwartungen der Menschen« bereithalte (317.325). Einerseits gelte es, die Gemeindekirche von ihren »institutionellen Aufgaben [zu] entlasten« (391), und andererseits, »auf Basis der Milieustudien das Profil ihrer Dialogpartner« klar zu bestimmen (156). Hierbei unterscheidet W. aufgrund von »Milieuvoraussetzungen« grundsätzlich zwischen Stadt- und Landgemeinden (127): »Für die Landkultur mit ihrem Schwerpunkt auf einer Geselligkeitskultur ist die städtische Lebensweise mit ihrer Opportunitätskultur nicht nachvollziehbar.« (130) Während die Parochie als Organisationsform in ländlichen Räumen grundsätzlich angemessen sei, müsse Kirche »im urbanen Kontext« vom »überkommenen parochialen Verständnis abstrahieren« und sich ebenso als »Kirche im Fitnesscenter, Kirche in der Diskothek, Kirche im Theater und im Museum« verstehen lernen (132 f.).
Eine empirisch angelegte »Praxis-Plausibilisierung« (367 ff.) soll diese Überlegungen validieren. Die Ergebnisse einer Befragung von 27 Stadt- und Landgemeinden in der Schweiz und in Deutschland werden knapp zusammengetragen und als Basis herangezogen für eine dreigliedrige Typologie »transparochialer Strukturen« im ur­banen Raum: Die Untersuchung unterscheidet zwischen einer »Vollparochie plus« (mit klassisch-volkskirchlicher Vollversorgung), einer »Semiparochie« (mit milieuspezifischen Schwerpunktsetzungen) und »parochiefreien Schwerpunktgemeinden« (Orte »re­ligiös angereicherte[r] Geselligkeitskultur«) (369 ff.). Insbeson-dere der »Semiparochie« werden Zukunftschancen für den urbanen Kontext eingeräumt.
W. legt mit seinem Werk eine transparent argumentierende und dank zielführender Zwischenfazits äußerst zugängliche Programmschrift vor. Er operiert souverän mit klassischen soziolo-gischen Positionen (Durkheim, Adorno, Bordieu) und bewegt sich sicher innerhalb der gegenwärtigen kirchentheoretischen Diskussion. Die kriteriologische Unterscheidung zwischen Stadt und Land mag indes nicht gänzlich überzeugen, da sie archetypische, innere Bilder bedient (»auf dem Land [ist] die kirchliche ›Welt noch in Ordnung‹«, 372), die sich in der gegenwärtigen deutschen Stadt- und Landforschung in dieser Weise nicht zu bestätigen scheinen. Der knappe empirische Teil (neun Seiten!) wirft hier mehr Fragen auf, als er Antworten bietet. Daneben bleiben auch inhaltliche Konsequenzen des Ansatzes undeutlich: Wie etwa kann eine Kirche bar des die Kirchensteuer voraussetzenden Körperschaftsstatus auf die sich zwingend ergebende Frage der finanziellen Versorgungssicher­heit von Gemeinden und Personal reagieren, wenn entsprechende Diskurse als »Nebencodierungen« nahezu kategorisch ausscheiden? Überzeugende Alternativen werden leider nicht dargeboten.
Als Beitrag zur Debatte um die zukünftige Gestalt der Kirche dürften sich die pointierte Eintragung des »Neoinstitutionalismus« in die Kirchentheorie erweisen, die Entschlossenheit, volkskirchliche Selbstverständlichkeiten kritisch zu hinterfragen (Sozialformen, Parochie, Körperschaftsstatus) sowie die Leidenschaft für eine in ihrer Identität gefestigte Kirche, die sich nicht an inneren Mechanismen, sondern am Menschen orientiert.