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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

961–962

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Springhart, Heike

Titel/Untertitel:

Der verwundbare Mensch. Sterben, Tod und Endlichkeit im Horizont einer realistischen Anthropologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIII, 250 S. = Dogmatik in der Moderne, 15. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-154405-7.

Rezensent:

Simon Peng-Keller

Das Sterben theologisch-anthropologisch als Lebensprozess zu artikulieren, ohne seine Härten auszublenden, ist die programmatische Intention der vorliegenden Habilitationsschrift von Heike Springhart. Als realistisch versteht sich die in ihr entwickelte theologische Anthropologie insofern, als sie einerseits »die empirische Wirklichkeit als kritischen Problemhorizont und Korrektiv« (14) in die dogmatische Arbeit einbeziehen möchte, andererseits das kritische Potential theologischer Anthropologie und einer theologia crucis zur Erschließung konkreter Erfahrungen betont. Mit dem Leitbegriff der Vulnerabilität verbindet sich dabei das Anliegen, sowohl die (Gestaltungs-)Offenheit endlichen Lebens als auch seine Gefährdung zu betonen. S. möchte ihre Reflexionen über das Sterben nahe an der verletzbaren und verletzten Leiblichkeit des Menschen halten. Das Sterben als Prozess einer sich verdichtenden Vulnerabilität zu beschreiben, soll aus einer falschen Alternative herausführen: jener zwischen dem Ideal frommer Ergebenheit und dem Leitbild einer sich verkrampfenden Autonomie, »bei dem der Sterbende bis zuletzt die Zügel in der Hand hält« (216).
Einen ökumenisch entfalteten Horizont für ihr Programm ge­winnt S. in Nachzeichnung vier exemplarischer Entwürfe des 20. Jh.s. Rekonstruiert werden die themenspezifischen Beiträge Karl Barths, Karl Rahners, Helmut Thielickes und Arthur McGills, wobei der Zugriff auf deren Schriften in konstruktiv systematischem Interesse geschieht. S. arbeitet jeweils die Hauptlinien des jeweiligen Ansatzes heraus und sucht in kritischer Auseinandersetzung nach Anknüpfungspunkten für das eigene Forschungsprogramm. Zeitlich und thematisch kommt dabei dem Ansatz von McGill eine Scharnierfunktion zu. Durch den Einbezug eines theologischen Werks, das im deutschsprachigen Raum bislang noch wenig rezipiert wurde, wird der Horizont der klassischen Moderne überschritten. Der Wechsel der theologischen Blickrichtung vom Todals terminalem Ereignis zum Sterben als gestaltbarem Lebensprozess, den McGill in kritischer Auseinandersetzung mit der Thanatologie der 1970er Jahre vollzieht, entspricht einer theologischen Programmatik, die in der vorliegenden Studie mit einer kreuzestheologischen Akzentuierung weitergeführt wird. Um das »Mitsterben mit Christus« im Denkhorizont der Gegenwart zur Geltung zu bringen, betont S. die Mehrdimensionalität und Ambivalenz auch dieses Sterbens.
Die monographische Studie bietet eine hilfreiche Ortsbestimmung für gegenwärtiges theologisches Nachdenken über Sterben, Tod und Endlichkeit. Sie schafft einen Überblick über ein kom-plexes Diskussionsfeld und bündelt heterogene Argumentationsstränge. Ob dem Vulnerabilitätsbegriff tatsächlich die Erschließungskraft eignet, die S. ihm zuschreibt, wäre zu diskutieren. Der hohe Anspruch, »die empirische Wirklichkeit« des Sterbens als kritischen Problemhorizont und Korrektiv in die theologische Reflexion einzubeziehen, wird in der Durchführung nur ansatzweise eingelöst. Weder die aktuelle empirische Sterbeforschung noch die vielfältigen Selbstzeugnisse Sterbender wurden systematisch be­rücksichtigt. Eine Ausnahme bildet Benita Joswigs Beschreibung des Sterbens als »Transitweg jenseits von Krankheit und Gesundheit«. In welcher Weise Texte wie Joswigs Briefe eines langen Ab­schieds als kritisches Korrektiv in die systematisch-theologische Reflexion über Sterben und Tod einbezogen werden können, bleibt eine offene Frage.