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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

948–950

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Markus, Hogrebe, Wolfram, u. Andreas Speer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das neue Bedürfnis nach Metaphysik. The New Desire for Metaphysics.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. IX, 292 S. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-044129-1.

Rezensent:

Jörg Dierken

»Metaphysik von unten« als »Denken auf Distanz« gegenüber szientistisch-naturalistischen Zurückweisungen von »Selbstinterpretation[en]« des Menschen, der immer auch ein »Sinngebilde« ist: So skizziert der Mitherausgeber Wolfram Hogrebe in seiner ab­schließenden »Dinner Speech« die plausible Zielrichtung der in diesem Band dokumentierten Tagung, die einem neuen Bedürfnis nach Metaphysik nachgehe (272 f.). Ganz neu ist dieses Bedürfnis freilich nicht, schon Schopenhauer kannte ein ähnliches Motiv. Die Herausgeber erinnern im Vorwort zudem Kants »Unvermeidlichkeitsthese« in Sachen Metaphysik nach den für das 20. Jh. signifikanten Destruktionsversuchen, für die das weite Feld zwischen Seinsdenken, Positivismus und Sprachanalyse steht (V). Das »neue, genuine Bedürfnis nach Metaphysik« (VI) soll in drei Teilen des Bandes umrissen werden. Sie gelten der »Geschichtlichkeit« der Metaphysik (I, 3–77), »Kant[s]« Verhältnis zu ihr (II, 79–157) und ihrer »Gegenwart« (III, 159–272). In 26 Beiträgen, die Hälfte davon Res­pondenzen, wird auf gut 270 Seiten ein wichtiges, einleuchtendes Thema aufgerufen, zu dessen Komplexität der recht forsche Innovationsgestus nicht ganz passt.
Den Aufschlag zur geschichtlichen Problemvergegenwärtigung machen M. N. Forster und T. Dewender mit subtilen Überlegungen zum sogenannten Parmenides-Paradox, das angesichts der Seins- und Sachhaltigkeit allen Denkens sowie dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs die Frage nach dem epistemischen bzw. ontologischen Status von Negationen betrifft (3–32). A. Speer und A. K. Jensen beschreiben etwas blass die »longue durée« metaphysischen Denkens mit Blick auf Aristoteles’ Metaphysik (33–47), die als »metafisica povera« (42) die Prinzipien endlichen Denkens diskursiv vergegenwärtige und mithin auch ihre Kritik einschließe. B. Sandkaulen und L. A. Macor gehen pointiert dem metaphysi-schen Be­dürfnis nach, das – in kantischem Gefälle – mit der mit allem Verstehen verbundenen Verortung des Bedingten im Horizont des Un­bedingten aufkommt, allerdings – im Gefolge Jacobis – die Suchbewegung vom Bedingten zum Unbedingten perspektivisch von letzterem zu ersterem umkehren lasse (45–62). Der mit je­dem Denken verbundene Ausgriff aufs Ganze lässt sich, so J. Halbwassen, in durchdachten, von R. Pozzo sekundierten Darlegungen, in drei Mustern philosophischer Theologie typologisieren (63–76). Sie gelten affirmativ dem vollkommensten Seienden, spekulativ der All-Einheit und negativ dem überseiend-transzendenten Absoluten und greifen in ihrer sachlichen Sequenz systematisch unreduzierbar ineinander.
Der zweite Hauptteil wird eröffnet mit bildungsbiographischen Erinnerungen von K. Ameriks zur Wiederentdeckung Kants und seiner metaphysisch-philosophischen Folgen auf beiden Seiten des Atlantiks, deren Zentrum der Respondent T. Khurana in der Erkundung nichtnaturalistischer Selbst-Erkenntnis sieht (79–92). C. F. Lau und Ó. Cubo beschreiben Kants theoretische Philosophie grundsätzlich zutreffend als einen für alle erkenntnisfähigen We­sen logisch gültigen transzendentalen Funktionalismus, der einseitige epistemische Konzepte im Sinne eines menschlichen Psychologismus oder eines in der An-sich-Sphäre verankerten Objektivismus überbiete (93–117). Auch im folgenden Doppelbeitrag von M. Ferraris und E. Basso geht es um die kritizistische Einhegung des Dings an sich, insbesondere angesichts Ferraris »New Realism« (119–135). J. F. Conant schließlich erörtert mit exegetischen und systematischen Argumenten Kants Kritik eines vermögenspsychologischen »Schichtenmodells« des Geistes, das entweder der Sinnlichkeit oder dem Verstand die Stiftung der Erkenntnis in ihrer Einheit zuweist. Wenn Kant demgegenüber in beiden keine bereits fertige Einheit sieht und auf deren funktionales Ineinander abstellt, bleibe das Problem, wie das vorbegriffliche »Gegebensein unserer Anschauung« erkannt werden könne, so sein Respondent G. Kreis (137–157; Zit. 157).
Am Anfang des die Gegenwart fokussierenden dritten Teils stehen Überlegungen zum – letztlich metaphysischen – Staus von »truthmakers«, die zur Lösung des um Überzeugungen und deren Rechtfertigung als Wahrheitsgrund kreisenden »Gettier-Pro­blems« aus der analytischen Tradition beansprucht werden (S. Bernecker, J. Horvath, 161–188). M. Gabriel exponiert mit großer Zu­stimmung seines Mitarbeiters und Respondenten J. Rometsch sein Projekt eines neuen, in sich differenzierten und für Varianz offenen ontologischen Realismus, der das »Sein zum Haus der Sprache« macht – ohne darum alles, was nur Sprache, Gedanke oder Zeichen ist, als irreal zu übergehen, da es auch »lokale Antirealismen« gebe (189–205; Zit. 197 f.). Sodann geht es im Gefälle von Hegels Rechtsphilosophie um das Gesetz als Realität des freien Willens ( S. Rödl, G. Gava, 207–224). Rödl expliziert konzis, dass und wie sich individueller und allgemeiner Wille über entäußernde Wahlakte vermitteln und Subjektivität mithin von Intersubjektivität nicht getrennt werden kann, Gavas Rückfragen gelten der Ordnung der Vermittlung und einem zumindest subkutanen Vorrang des unmittelbaren subjektiven Selbstverhältnisses beim Hegel-Interpreten. R. Ôhashi widmet sich anschließend der auf die nichtobjektivierbare Vollzugsanschauung abstellenden »Ort«-Logik des japanischen Meisterdenkers Nishida und stellt sie in den Kontext von europäischem Idealismus und Metaphysikkritik, während S. Yazicioğlu das fernöstliche absolute »Nichts« mit Dualisierungen aus der westlichen Antike kontrastiert (229–238). Abschließend entfaltet G. Boehm sein Thema der ›ikonischen Negation‹ in subtilen Überlegungen. Im Ausgang steht Parmenides’ Affirmation reiner Gegenwart, deren Sinn sich durch unbegriffliche Verneinung von Nicht-Sein erschließt. Elementare, vorprädikative Figuren von Ne­gation finden sich eben auch in allem Bildlichen und seiner Wahrnehmung, indem das Bild als Bild sich vom Abgebildeten abhebt und das, was es sehen lässt, aus dem Nichtgesehenen aussondert: Im Sehen von Bildern zeigt sich prozessual Sinn vermittels iko-nischer Differenz. Der Respondent I. Mayer zieht Linien von Boehms »Latenz der Negation« zum metaphysisch-sinntheore-tischen Grundproblem der Bestimmung durch Unterscheidung und stellt u. a. die Rückfrage, ob »Negation« für das traktierte Phänomenfeld begrifflich zu stark sei (239–272).
Der Aufsatzband ist aus einer Kölner Tagung von Preisträgern und Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung hervorgegangen. In seiner Dinner-Speech dankt Hogrebe der Stiftung für den »Nachhilfeunterricht«, den sie der deutschen Philosophie in Sachen gegenwärtiger Metaphysik durch die internationale Ta­gung geleistet habe (273). Man mag freilich auch an die institutionellen Üblichkeiten des akademischen Betriebs mit seinen wissenschaftspolitischen Spitzen denken. Dass den zum Teil alten Fragen mit metaphysischer Drift auf neue Weise nachgegangen wird, ist auf jeden Fall zu begrüßen. Dass dies diskursiv geschieht und dabei in pluraler Weise verschiedene Phänomenbereiche, Fragestellungen und Problemfelder bedacht werden, ebenfalls. Ob dadurch wirklich ein neues oder gar »das« neue »Bedürfnis nach Metaphysik« fassbar und gar in seinen innovativen Grundkonturen ansichtig wird, mag gleichwohl gefragt werden.