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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

936–938

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935. Hrsg. v. P. Zocher, M. Beintker, M. Hüttenhoff.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. XXVI, 891 S. = Karl-Barth-Gesamtausgabe, 52. Lw. EUR 125,00. ISBN 978-3-290-17876-5.

Rezensent:

Martin Hailer

Im Jahr 2013 erschienen mit Band 49 der Barth-Gesamtausgabe die Vorträge und kleineren Arbeiten aus den Jahren 1930–1933. In wegen der schieren Materialfülle noch einmal stärkerer Konzentration legt das gleiche Herausgeberteam hier die kleineren Texte aus B.s Feder von Januar 1934 bis zum Vortrag »Das Evangelium in der Gegenwart« vor, den B. wenige Tage vor seiner Entlassung aus dem Bonner Professorenamt im Juni 1935 hielt. Die Konzentration auf tagesaktuelle politische und kirchenpolitische Ereignisse ist stärker als im Vorgängerband, doch hat B. dies, wie in den Jahren zuvor auch, mit grundsätzlichen theologischen Klärungsbemühungen kombiniert. In den Texten aus diesen überaus bewegten Monaten lassen sich zu­nächst drei thematische Zentren ausmachen:
a) Die Vortragsreihe »Offenbarung, Kirche, Theologie« (169–239) hielt B. im April 1934 in Paris und damit in einem Milieu, in dem seine Stimme noch recht wenig bekannt war. Entsprechend lässt sie sich als kompakte Einführung lesen. In Sachen Offenbarung führt er aus, dass sie Gottes Gegenwart selbst ist: »Offenbarung heißt: Gott selbst ist da, wo wir sind […] ja er ist selbst das, was wir sind.« (184) Dies ist die konzentrierte Version der trinitarischen Offenbarungstheologie des Auftakts der KD. Ihr korrespondiert eine entsprechend zurückhaltende Ekklesiologie, weil das entscheidende Merkmal der Kirche das Hören des Wortes Gottes ist. Das ist freilich mit einem spezifischen Wächteramt gegenüber der Welt kombiniert: Die Kirche muss die Götter der Welt ignorieren und erinnert sie an deren Nichtexistenz. Denn der Grund der Un­ruhe der Welt ist nachgerade »ihre Weigerung, sich zu ihrer Profanität zu bekennen« (193). Hier liegt eine politische Theologie in nuce vor. Aus ihr folgt aber genau keine Besserwisserei der Theologen. Wohl nennt B. die Theologie die schönste unter allen Wissenschaften, fügt aber an: »Der wäre kein Theologe, der vor ihren Ab­gründen noch nie erschrocken wäre oder der vor ihnen zu erschrecken aufgehört hätte.« (203)
b) Breiten Raum nehmen die Vorarbeiten und Kommentare zur Barmer Theologischen Erklärung sowie ihre Textfassung ein (264–366, Faksimile der »Urschrift« XXIV/XXV). Geboten werden B.s Notizzettel zur sogenannten Urschrift, die Urschrift B.s und der Entwurf Asmussen/Barth/Breit vom 16.5.1934 in Konkordanz, die BTE selbst nach dem Flugblatt-Erstdruck sowie aus »Texte zur Barmer Theologischen Erklärung« (Zürich 22004) bekannte Aufsätze, mit Zusatz eines Stichwortkonzepts (320–326). Gemeinsam mit der aus Briefen und Archivmaterial reich belegten Einleitung liegt hier also eine genetische Edition von B.s Beteiligung an der BTE vor. Nicht zuletzt für einen kritischen Blick auf B.s diesbezügliche Selbstwahrnehmung (vgl. z. B. KD II/1, 194–200) ist diese präzise Aufschlüsselung der Entstehungszusammenhänge und der allerersten Kommentare ein willkommenes Hilfsmittel.
c) Kaum weniger bekannt als die Barmer Theologische Erklärung dürfte ein »Text« sein, der den Polemiker B. am Werk zeigt: das Emil Brunner zornig entgegengeschleuderte »Nein!« vom Oktober 1934 (429–527). Unter den mancherlei Brüchen innerhalb der Dialektischen Theologie ist dies der wohl spektakulärste und bekannteste. Im Rahmen der sich abzeichnenden Differenzen zwischen Brunner und B. hatte Brunner mit »Natur und Gnade. Zum Ge­spräch mit Karl Barth« eine Schrift vorgelegt, in der er die Frage nach dem Anknüpfungspunkt für die offenbarungsgestützte Rede von Gott thematisiert und zugleich den Nachweis zu führen sucht, dass die großen Reformatoren, B.s Meinung entgegen, sehr wohl in diesem Sinne natürliche Theologie betreiben. Eine Antwort B.s war wohl allgemein erwartet worden. Sie erschien im Spätjahr 1934 als Heft 14 von »Theologische Existenz heute«. Natürliche Theologie bestimmt er als »Systembildung, deren Gegenstand ein von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus – deren Weg also ein von der Auslegung der heiligen Schrift grundsätzlich verschiedener ist« (450). Diesen »hier in Frage stehenden Dämon wirklich loszuwerden«, sei freilich alles andere als einfach (442). Das führt B. dann in eine Auseinandersetzung mit dem Brunner-Text und mit dessen Calvin-Deutung, der er Katholizismus unterstellt (478). Das Gegenmittel – eher skizziert als ausgeführt – besteht im Verzicht auf Prolegomena zugunsten inhaltlicher Theologie: Die Fähigkeit zum Offenbarungsempfang ist nicht aus den Kirchenfernen »herauszukatechisieren« (524). Menschen sollen vom Evangelium angesprochen, nicht auf ihre Ansprechbarkeit hin angesprochen werden (ebd.). – Mancher wohlgesonnenen oder kritischen Rezeption entgegen war dies nicht B.s letztes Wort zur natürlichen Theologie. Er sah auch später nicht zuletzt seine eigene Arbeit von ihr beständig bedroht (KD II/1, 499–501). In »Nein!« geht es demnach nicht um eine abzulehnende These, sondern um die stets präsente Gefährdung des Theologietreibens überhaupt.
Neben diesen drei theologischen Hauptstücken findet sich im Band viel Material aus der theologischen Tagesarbeit: Es handelt sich dabei in erster Linie um Vorbereitungstexte und Berichte für Synodaltagungen. Neben Barmen betrifft dies die reformierte Synode im Januar 1934, die Dahlemer Bekenntnissynode, eine Zusammenkunft der reformierten Kirche in der Provinz Hannover und den theologischen Ausschuss der Altpreußischen Union im Januar 1935. B. wird hier als Kirchenpolitiker und Synodaler sichtbar.
Die Analyse einer Verlautbarung aus deutschchristlicher Feder (138–144) belegt noch einmal den in »Theologische Existenz heute!« (Juni 1933) erhobenen Vorwurf der Häresie. In dieses Umfeld gehören auch der Entwurf für das Memorandum an Hitler (111–123) und die Entwürfe und Briefe, die sich um B.s eigene Amtsenthebung drehen: Er hatte sich zum Beamteneid auf den Führer nur bereiterklärt, wenn er ihn mit dem Zusatz »soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann« (557, i. O. herv.) hätte sprechen dürfen. Die daraufhin erfolgte Suspendierung mündete in die Ru­hestandsversetzung im Juni 1935, auf die am nächsten Tag der Ruf nach Basel folgte.
Die Editionsarbeit folgt den bewährten Richtlinien der Gesamtausgabe (Nachweise und Register: 851–891). Stärker noch als in den zuvor erschienenen Bänden der Vorträge und kleineren Arbeiten wurde das Augenmerk des Kommentars auf die zeitgeschichtlichen Rekonstruktionen gelegt. Die Herausgeber ziehen dafür in reichem Umfang Archiv- und Briefmaterial heran und zeichnen immer wieder ein taggenaues Bild. Bei der Brisanz der (kirchen-)geschichtlichen Umstände erscheint dies angemessen. Die Textkritik ist mitunter aufwändig, wird aber übersichtlich präsentiert. Einige wenige bislang unveröffentlichte Texte – Entwürfe, Sitzungsberichte, eine Nachschrift – finden sich; dass sie und die restlichen Texte nun im minutiös rekonstruierten zeitlichen Zusammenhang gelesen werden können, ist das Hauptverdienst dieses Bandes. Er präsentiert ein stimmiges, reich kommentiertes und übersichtliches Bild von Karl Barths Mitwirken in einer der dramatischsten Phasen der jüngeren Kirchen- und Theologiegeschichte.