Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2017

Spalte:

932–934

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Preisendörfer, Bruno

Titel/Untertitel:

Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit.

Verlag:

Berlin: Verlag Galiani Berlin 2016. 472 S. Geb. EUR 24,99. ISBN 978-3-86971-126-3.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Wie in seinem 2015 erschienenen erfolgreichen Bestseller »Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit«, auf den die Werbebanderole des vorliegenden Bandes ausdrücklich hinweist, gibt Bruno Preisendörfer auch in seiner neuen Monographie ein ansprechendes und gut lesbares Kolorit einer vergangenen Zeit. So ermöglicht er dem mehrfach als »Zeitreisender« angesprochenen Leser in einem hilfreichen hermeneutischen Prozess, die his­torische Distanz zur Lutherzeit zu überbrücken und so zu einem vertieften Verständnis einzelner Erscheinungen des 16. Jh.s zu gelangen.
In 13 Kapiteln führt P. den Leser aus unterschiedlichen Perspektiven ins 16. Jh. Bereits in der Einleitung macht P. seinen pluralen Ansatz deutlich, der auf viele Aspekte eingeht und viele Quellen – aus der Reformationsgeschichte vertraute und fachlich entlegenere volkskundliche bzw. wirtschafts- und sozialgeschichtlich interessante – für seine Darstellung nutzt. Leider verzichtet P. auf durchnummerierte Fuß- oder Endnoten, bietet nur mit Sternchen (*) markierte Verweise innerhalb des Textes oder knappe Erläuterungen an und im Anhang recht unübersichtlich die von Kapitel zu Kapitel gesammelten Quellen- bzw. Literatur-Nachweise. Das mag der Lesbarkeit dienen, erschwert jedoch die wünschenswerte wissenschaftliche Nutzbarkeit. Zunächst widmet sich P. der »Welt-lage« und der »deutschen Beschwernisse«. Dabei umfasst die Be­schreibung der »Gravamina deutscher Nation« nur eins von neun Unterkapiteln, die anderen widmen sich der Weitung des Weltbildes, des Globus von Martin Behaim und seiner Fehlerhaftigkeit sowie der Wichtigkeit verlässlicher Daten für den ökonomischen Wettlauf um die neue Welt. Die Beschreibung der Verkehrswege durch das »Romisch reych« und die Beschreibung »Teutscher Nation« kontextualisieren geographische und historische Informationen aus den Quellen des 16. Jh.s und führen auch den Leser ohne besondere Vorbildung in die politisch günstigen Bedingungsfaktoren für die Durchsetzung der Reformation ein, besonders in das Verhältnis von zentraler und territorialer Macht.
Im einleitenden Kapitel geht P. auch auf die deutsche Sprache und die Rolle Luthers für die Entstehung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache ein. Insgesamt nimmt dieser Aspekt weniger Raum ein, als es der Titel des Buches vermuten lässt, wenn dieses Unterkapitel auch noch einmal durch die Beschreibung deutscher Druckbibeln, vor allem auch der vor Luthers Übersetzung entstandenen, der Auflagenhöhe und des Vertriebs in Lagen, die man dann zum Buchbinder bringen musste, ergänzt wird. Hier geht P. auch auf den Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung ein.
Das zweite Kapitel widmet sich den »Herren im Reich«. Besonders interessant für den Leser sind hier die Darstellung der sozialen Situation der Ritterschaft, derer schwindenden sozialen und militärischen Bedeutung, flankiert auch von dem Unterkapitel »Die Macht aus den Kanonenrohren«, das interessante Informationen zur Entwicklung der Waffentechnik bietet. Der Macht aus den Kanonenrohren wird die aus den Münztruhen gegenübergestellt. Luthers Verhältnis zur rechten Ordnung im Reich wird untermauert durch das Zitat eines Briefes an den durch Kleists Novelle be­rühmt gewordenen Hans Kohlhase.
Eine besondere Beschreibung des ökonomischen Umfeldes bietet das 3. Kapitel »Geldleute«. Auch hier besticht P. mit Informationen, die man so nicht unbedingt in einer Monographie dieses Themas erwartet wie der des Niedergangs der Hanse durch Schwinden der Heringsschwärme sowie einer Darstellung des Rechensystems von Adam Riese. Luthers Kampf gegen den Wucher und seine damit verbundenen Vorurteile gegen die Juden sind im Zusammenhang reformationshistorischer Darstellungen dagegen geläufiger.
Die Kapitel vier und fünf widmen sich ganz der »Zeitreise«, indem sie das Leben auf der Burg und in der Stadt vergleichen und die Situation des Handwerks schildern. Dabei geht P. auch auf die Universitäten, Studentenunruhen, den »Gemeinen Kasten« ein. Ein interessantes Hintergrundkolorit bietet das Unterkapitel »Die Tiere der Stadtmenschen« und die darin zitierte Verordnung, dass »alle inwoner in der statt und im ampt ihre hunde und koeder, wann man den gottesdienst in der kirchen mit messe halten, predigen und anderm pflegt zu halten, in iren heusern sollen anlegen und verwaren, dass keiner in die kirchen laufe noch gehe, also unruhig mit bellen und keifen, als bisher geschehen« (141). Neben der Ständeordnung und der Erfindung der Uhr ist im Abschnitt über das Handwerk das Unterkapitel über die Getreide, Drahtzieh- und Papiermühlen hervorzuheben. Hier stellt P. spektakuläre Zusammenhänge nicht ohne Humor dar. Insofern z. B. das Lumpensammeln Voraussetzung für die Herstellung von Papier wird, sind die Lumpensammler »schuld« an der Reformation (167). Auch auf die Problematik technischer Neuerungen innerhalb des Handwerks geht P. ein.
Ähnliche Hintergrundschilderungen zur Reformationszeit bieten die Kapitel über Ernährung und Kleidung (neun und zehn). Im neunten Kapitel wird nicht nur bei Doktor Martinus zu Tisch geladen, die Speise von Bürgern und Bauern beschrieben. P. führt auch aus, dass, was die Reinheit des Bieres betreffe, der Rummel, den man darum in Bayern mache, das Papier nicht wert sei, auf dem von dieser Reinheit die Rede sei. Wir erfahren, dass Naumburger Bier vom alternden ewig verstopften Luther als Abführmittel benutzt wurde, Einbecker Starkbier sein Lieblingsgetränk gewesen sei. Ratschläge zum Abnehmen gehören ebenfalls zu diesem Kapitel. Man rät zu Mäßigung, geringem Fleischgenuss und dünnem sauren Weißwein statt Rotwein. Kleiderordnungen, Modebewusstheit, die spärliche Bekleidung der männlichen Genitalien durch »die Bruch« und weitere Dinge werden im Kapitel über die Kleidung beschrieben.
Die Kapitel sechs bis acht widmen sich Themen, die aus den Darstellungen der Reformationsgeschichte vertraut sind. Zunächst geht P. im sechsten Kapitel auf den Bauernkrieg ein, wobei er zu Beginn sehr viel Wert auf die Schilderung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Bauern legt sowie auf Luthers Festhal-ten am mittelalterlichen »ordo«. Glaube und Aberglaube, Bilderstreit und »Wiedertäufer« sind Themen im siebten Kapitel, wobei P. an einer kritischen Sicht Luthers nicht spart. Luthers überzogenes Urteil über Thomas Müntzer wurde schon im Zusammenhang des Bauernkrieges als Fehlurteil qualifiziert. Schließlich führt uns das achte Kapitel in den Haushalt der Katharina von Bora. Interessant ist die Beschreibung der Arbeitsteilung im Hause Luther. Dass Luther seiner Frau 1535 eine Belohnung von 50 Gulden versprach, wenn sie es schaffe, bis Ostern 1536 die ganze Bibel zu lesen, mag zeigen, dass der Reformator seine Frau an seiner Arbeit teilhaben lassen wollte.
Die letzten drei Kapitel (11–13) informieren über das Ehe- und Sexualleben der Zeit, über Bordelle, Ehe und Eherecht, handeln vom Kinderkriegen und Kinderverlieren, zeigen Luthers aus heutiger Sicht als kühl empfundene Einstellung zum Tod im Kindbett, beschäftigen sich mit »Weibermacht«, wie sie in Bildern zum Teil aus biblischer Tradition, zum Teil in obszönen Darstellungen von Frauen, die Männer beherrschen, dargestellt werden. Auf die Werkstatt Cranachs als der eines geschäftstüchtigen Unternehmers geht P. ausführlich ein. Krankheiten und deren Behandlung, Tod, Sterben und Begräbnis, Luthers These zur Verpflichtung, Vorsorge zu treffen für Hinterbliebene, das alles stellt P. unter Verwendung zahlreicher Quellen verständlich dar. Nachweise der verwendeten Literatur und Quellen, ein »kleines Latinum für Zeitreisende«, Er­klärungen zu Bündnissen und Gruppen und ein Personenregister runden das Werk ab.
Dass der Schriftsteller Preisendörfer kein Theologe ist, wird an einigen Stellen sichtbar, spricht er doch z. B. von den »Römerbriefen« des Paulus (193). Dennoch kann der reich bebilderte Band dem an der Geschichte des 16. Jh.s Interessierten zur Lektüre empfohlen werden.