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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

928–930

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Damberg, Wilhelm, Gause, Ute, Karle, Isolde, u. Thomas Söding[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2015. 333 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 978-3-451-31996-9.

Rezensent:

Volker Leppin

Unter den vielen Veröffentlichungen im Vorfeld von 2017 sticht dieser Band nicht nur hervor, weil die Herausgeberinnen und Herausgeber konsequent den Bochumer Standortvorteil zweier theologischer Fakultäten nutzen, sondern auch, weil stärker als in anderen Kontexten neben der Kirchengeschichte und der Systematischen Theologie auch die Praktische Theologie zu Worte kommt. Inhaltlich bedeutet dies, dass der Band sich vorgenommen hat, historische und gegenwartsorientierte Gedanken zum Reformationsjubiläum mit aktuellen Ausblicken auf kirchliche Reformen zu verbinden.
Die Einführung von Ute Gause und Wilhelm Damberg zeichnet den reformationshistorischen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte sensibel in die zeitgeschichtlichen Ereignisse ein: Im Blick auf die Verquickungen von Lortz mit dem Nationalsozialismus wird hier Klartext geredet, dann die Verbindung der Deutungen von Iserloh und Jedin mit den Reformprozessen rund um das Zweite Vatikanum aufgezeigt. Manche evangelische Forscher mögen irritiert sein, dass die allseitigen Bemühungen um Destruktion des Ge­schichtsbildes des 19. Jh.s in den Kontext der Theologie von Auschwitz gestellt werden – aber dieser Gedanke ist jedenfalls inspirierend und regt zum Nachdenken an.
Der zweite Einleitungsbeitrag stammt von Marcus Sandl und bringt in kreativer Weise die historische Interpretation der Reformation als Medienereignis – bei der Sandl durch Reflexionen auf den Zusammenhang des Druckmediums mit der Persistenz des Wortes Gottes die banale Feststellung vom Zusammenhang von Reformation und Gutenberg erhellend übersteigt – in ein Gespräch mit der gegenwärtigen medialen Aufbereitung des Jubiläums.
Eine erste größere Einheit ist dem Thema der Heiligen Schrift gewidmet. In besonderer Weise wird das Anliegen einer ökumenischen Besinnung durch den Beitrag von Thomas Söding über das paulinische Corpus-Christi-Bild und seine diversen Transformationen innerhalb der Bibel und in der Wirkungsgeschichte erfüllt, der sich bis in das ökumenische Gespräch der Gegenwart erstreckt. Einen intensiven Blick in die Quellen bietet Peter Walters Beitrag zur Frage des Schriftprinzips von Trient. Er nimmt nicht noch einmal die abgearbeitete Frage nach der Zuordnung der zwei Quellen auf, sondern zeigt, was es bedeutet, dass das Lehramt zwar nicht über die Schrift, aber über die Schriftauslegung (so seine berechtigte Betonung s. 90) zu entscheiden hat (92). Weniger griffig erscheint demgegenüber der evangelische Beitrag von Bernd Oberdorfer mit einem Überblick zum Schriftprinzip im Protestantismus. Der von ihm angetippte Gedanke, dass durch die Bindung dogmatischer Aussagen an die historisch-kritische Exegese die Schrift selbst zu einer norma normata gemacht werde (79), hätte dabei durchaus eine gewisse Entfaltung vertragen. So steht er etwas enigmatisch im Raum.
Die Medien Predigt und Musik bilden die beiden nächsten Blö-cke. Hier wird der Versuch gemacht, historische Beiträge mit aktuellen zu verbinden. Leider lässt die Veröffentlichung nicht erkennen, dass es hier zu fruchtbarem Austausch auf der Tagung im Jahre 2013 gekommen wäre, die der Veröffentlichung zugrunde liegt. Die Beiträge sind für sich lesenswert, aber eine echte Bezugnahme fehlt leider: Den anregenden Überlegungen von Ute Gause, den reformatorischen Charakter von Predigten in der Verbindung aus humanistischer Predigtweise und Schriftprinzip zu finden, korrespondiert ein Beitrag von Christoph Dinkel über die Aufgabe der reformatorischen Predigt, zu lehren, zu bewegen und zu erfreuen, wie grundsätzlich jede andere Predigt auch (153). Und Stefan Mi­chels gelehrter Auffächerung der vielfältigen Möglichkeiten des Umgangs mit dem geistlichen Lied im 16. Jh. steht ein Beitrag von Peter Bubmann gegenüber, der Pluralisierung vor allem als Phänomen der Spätmoderne versteht.
Viel homogener stellt sich die folgende Sektion zur Liturgie dar, nicht zuletzt, weil in ihr drei historisch belehrte Liturgiewissenschaftler ins Gespräch zusammengespannt sind. Michael Meyer-Blanck, Jürgen Bärsch und Stefan Bönert lassen erkennen, wie deutlich mittlerweile in beiden Konfessionen Liturgie und Predigt aufeinander bezogen sind, wobei Meyer-Blanck den evangelischen Akzent der »Reflexität« des liturgischen Geschehens von der Predigt her hervorhebt.
Der Ethik wendet sich unter dem Titel »Kirche in der Welt« der folgende Abschnitt zu, in dem leider ein katholischer Blick fehlt. Traugott Jähnichen und Christoph Strohm verschränken historische und gegenwartsorientierte Perspektive: Jähnichen diagnostiziert im 20. Jh. im ethischen Diskurs ein Auseinanderdriften von Rückzug aus weltlichen Zusammenhängen einerseits und radikaler Verweltlichung anderseits und empfiehlt Luthers Drei-Stände-Lehre als Remedium. Christoph Strohm nimmt die unterschiedlichen Reaktionsmuster im Dritten Reich zum Ausgang, um deutlich zu machen, dass eine die Unterschiede der Konfessionen einebnende Frühneuzeitforschung ebenso fehlgeht wie eine solche, die einseitig dem Protestantismus Schuld an negativ gesehenen Modernisierungsprozessen zuweisen will, wie es etwa bei Brad Gregory der Fall ist. Dem setzt Strohm ein Modell kulturprägender konfessioneller Unterschiede durch die Jahrhunderte entgegen. Neben diesen beiden wichtigen Beiträgen steht etwas erratisch ein Plädoyer von Michael Weinrich für die Welthaltigkeit des Wortes Gottes.
Der Band mündet, seiner Anlage entsprechend, in einen Ausblick auf Kirchenreform. Dieser beginnt mit einem Aufsatz von Günter Thomas, der den Anspruch erhebt, Reform und Reformation begrifflich zu unterscheiden, was ein hilfreicher Beitrag Systematischer Theologie zum Diskurs gewesen wäre. Die Ausführungen münden allerdings in wenig substantiierte Polemik gegen Ökumeniker, denen es daran fehle, »ehrlich und offen« einschlägige Experten heranzuziehen, um die Aussichtslosigkeit ihrer vermeintlichen, von Thomas aber nicht präzise benannten Ziele zu erkennen (293). Im Gestus des Neuerers möchte Thomas »[f]ür das ökumenische Gespräch […] eine Umstellung von Einheit auf Differenz […] vorschlagen« (ebd.). Dass dies elf Jahre nach der von Ulrich Körtner vorgeschlagenen Wendung »vom Konsens- zum Differenzmodell« und mehr als ein Vierteljahrhundert nach Eilert Herms’ Plädoyer, im Trennenden die verbindende Kraft zu entdecken, Originalität allenfalls dadurch gewinnt, dass Thomas es weit weniger differenziert begründet als die Genannten, ficht diesen offenbar nicht an. Zum Glück folgen auf diesen eher meinungs- als argumentationsstarken Beitrag noch zwei kluge, abgewogene Beiträge zu Reformperspektiven von Matthias Sellmann und Isolde Karle, die darin konvergieren, dass sie einen Machbarkeitswahn in Re­formdingen relativieren und kritisieren und für einen zugleich gottvertrauenden pragmatischen Zugang zu solchen Vorhaben plädieren.
So ist aus der seinerzeitigen Tagung ein in seiner Vielfalt lesenswerter, allerdings nicht wirklich geschlossener Band entstanden. Man hat nicht den Eindruck, dass hier Nachhaltigkeit über 2017 hinaus angestrebt wurde. Die vielen Druckfehler – der schönste S. 187: »Reformation als tödlich erstes (statt: ernstes) Ereignis« – sind hiervon nur ein Symptom. Schwerer wiegt, dass die Studien oft nur abbreviiert wirken und nach gründlicherer Ausarbeitung verlangten. Man wollte wohl bei 18 Beiträgen einen Fünfhundert-Seiten-Wälzer vermeiden. Entstanden ist so ein schlanker Appetizer – auf den hoffentlich im einen oder anderen Fall noch die Hauptmahlzeit folgt.