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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

926–927

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Mugridge, Alan

Titel/Untertitel:

Copying Early Christian Texts. A Study of Scribal Practice.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XX, 558 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 362. Lw. EUR 159,00. ISBN 978-3-16-154688-4.

Rezensent:

Georg Gäbel

Die Erforschung frühchristlicher Texte nimmt zunehmend die Handschriften selbst als physische Artefakte mit ihren paläographischen und kodikologischen Eigenschaften in den Blick. Hier reiht sich Alan Mugridges Studie ein.
Die Arbeit beruht auf seiner von dem Philologen und Althistoriker G. Horsley betreuten Dissertation. M., Senior Lecturer am Sydney Missionary and Bible College, fragt, wer die Schreiber der frühen christlichen Manuskripte, soziologisch betrachtet, waren. Wurden diese Manuskripte, wie oft angenommen, während der ersten Jahrhunderte meist gruppenintern durch nicht eigens ausgebildete Schreiber angefertigt?
Im 1. Kapitel erläutert M. Fragestellung, Vorgehen und Materialbasis der Untersuchung. Er teilt die 548 berücksichtigten Manuskripte des 2. bis 4. Jh.s in Gruppen ein: Christliche Manuskripte (A: LXX, B: Neues Testament, C: Apokryphen, D: Patristisches, E: Hagiographisches, F: Gebete, Hymnen u. Ä., I: Gnostica und Manichaica, J: Unidentifizierte Texte) und Kontrollgruppen (G: Amu-lette, H: Magica, K1: Jüdische LXX-Manuskripte, K2: andere jüdische Manuskripte, L: Schultexte). Die anschließenden Ausführun gen zu Schreibern und zur Text- und Buchproduktion in der Kaiserzeit geben einen informierten, sehr komprimierten Digest von Aspekten gegenwärtiger Forschung. Die Qualität der »Hand« in jedem untersuchten Manuskript wird sodann im Anschluss an neuere papyrologische Arbeiten je einer von drei Kategorien zu-geordnet: 1 »calligraphic«, 2 »secretarial/plain«, 3 »non-professional/ not trained«. Kategorien 1 und 2 gelten als »professional/scribal«, was nicht höchste formale Qualität bedeuten muss und nicht mit besonders treuer Textreproduktion gleichzusetzen ist, sondern eine Bandbreite an Qualitäten und Formaten abdeckt.
Es folgen Untersuchungen zu Eigenschaften und formaler Gestaltung der Manuskripte: in Kapitel 2 zu Inhalt, Material, Form und Größe, in Kapitel 3 zum Seitenaufbau, d. h. Kolumnen, Rändern und Zwischenräumen, in Kapitel 4 zu Lesehilfen, d. h. Überschriften, Ab­schnittsmarkierungen, Interpunktion u. a., in Kapitel 5 zu Formalia der Textwiedergabe, d. h. Buchstabenhöhe, Buchstaben pro Zeile, Zeilen pro Seite, kritischen Zeichen im Text, Korrekturen, nomina sacra, Schreiberversehen und Korrekturen u. a. Die Befunde werden in Tabellen am Ende des Bandes geboten; diese enthalten Sammlungen differenzierter Beobachtungen zur formalen Gestaltung der Manuskripte. In der Darstellung werden diese Einsichten exemplarisch an­geführt. Die leitende Fragestellung ist dabei immer dieselbe: Lassen sich Art und Ausführung der untersuchten Eigenschaften und Ge­staltungsmerkmale korrelieren mit den Zuordnungen zu Kategorie 1–3 aufgrund der jeweiligen »Hand«?
Nicht immer lassen sich solche Korrelationen herstellen, doch insgesamt ergibt sich ein stimmiges Bild, das trotz der notwendig begrenzten Datenbasis aussagekräftig ist und die Zuordnung der Manuskripte zu Kategorien aufgrund ihrer Schriftqualität bestätigt. Die Mehrzahl der christlichen Manuskripte in Gruppe A–D fällt in Kategorie 1 und 2. Das gilt auch für das 2. Jh., obgleich im 3. und 4. Jh. Zahl und Anteil der Manuskripte in Kategorie 1 und 2 zunehmen. Die Annahme christlicher Skriptorien weist M. für den untersuchten Zeitraum ab. Er folgert, es habe zwar Manuskripte geringer Qualität, wohl für den Eigengebrauch, gegeben, doch habe man sich in der Mehrzahl der Fälle »professioneller« Schrei-ber unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit bedient. Diese hätten den Auftrag, christliche Texte zu kopieren, vermutlich nicht an­ders ausgeführt als jeden anderen. Man könne sie daher nicht ohne Weiteres für interessengeleitete Autoren von Textvarianten halten.
Im beigegebenen 255 Seiten starken Manuskripte-Katalog bie­tet M. Kurzbeschreibungen der Manuskripte einschließlich Art und Qualität ihrer Schrift. Ferner finden sich eine Konkordanz der in­ternen Manuskriptnummern bei M. im Verhältnis zu anderen Ka­talogen und ein Index zu Publikationsorten besprochener Manuskripte.
Die Studie von W. Johnson, Bookrolls and Scribes in Oxyrhynchus, 2007, scheint für M. Modellcharakter zu haben. Die Bezeichnungen »professional/non-professional« bleiben bei M. missverständlich. Dass damit Schreiber gemeint sind, die eine einschlägige Ausbildung genossen haben, erschließt sich bei Johnson (a. a. O., 159 f.) besser (vgl. daneben »trained/untrained« bzw. »skilled/unskilled«). Johnson reflektiert plausibel, wie sich die Annahme »professioneller« Schreiber zur Verbreitung antiker Literatur in privaten Freundes- und Interessentenkreisen verhält (a.  a.  O., 158 f.), während M. sich dazu ausschweigt. Hier hätte sich K. Haines-Eitzens Studie Guardians of Letters, 2000, zum Dialog angeboten; eine Arbeit, die ebenfalls nach der sozialen Verortung frühchristlicher Schreiber fragt, in diesen jedoch Mitglieder theologisch interessierter »scribal networks« sieht, die auch auf das inhaltliche Profil von Abschriften Einfluss genommen hätten.
Die Stärke von M.s Arbeit ist die nüchterne Argumentation im Detail; die Kehrseite dessen ist, dass sie auf Theoriedebatten eher am Rande eingeht. M.s ganze Aufmerksamkeit gilt der Arbeit der Schreiber; Fragestellungen wie die nach der Unterscheidung von Text- und Paratextbestandteilen, die auf verschiedene Akteure zurückgehen (Auftraggeber, Editor, Schreiber, Korrektor, Nutzer), oder nach dem intendierten Gebrauch der einzelnen Manuskripte (privat, in Freundeskreisen, in kirchlichen, gottesdienstlichen, schulischen Kontexten), werden gelegentlich berührt, aber nicht zusammenhängend untersucht. Nicht im Blick ist auch das Verhältnis von formaler Qualität und etwaigen textgeschichtlichen Affinitäten. Die Bedeutung der nomina sacra als Identitätsmarker einer christlichen materialen Kultur darf man stärker betonen, als M. es tut. Schließlich: Ausgebildete und in diesem Sinne »professionelle« Schreiber wird es natürlich auch in gruppeninternen christlichen Zusammenhängen gegeben haben; M. selbst nimmt an, dass die Zahl ausgebildeter Schreiber, die Christen waren, allmählich zunahm.
Es gab bisher keine Arbeit, die so umfassend frühchristliche griechische Handschriften des 2. bis 4. Jh.s zusammen mit frühjüdischem und anderem Vergleichsmaterial auf die formale Qualität der Textherstellung und -gestaltung untersucht und sie damit sozialgeschichtlich in das Bild der Text- und Buchproduktion der Kaiserzeit eingezeichnet hätte. Dass wir im untersuchten Zeitraum nicht ohne Weiteres von ungeübten Schreibern christlicher Manuskripte ausgehen und nicht undifferenziert von einer geringen Qualität dieser Manuskripte sprechen sollten, hat M. umfassend und detailliert bestätigt. Seine These, dass wir Schreiber vor uns haben, die als »professionals«, nicht aber notwendigerweise als Christen anzusprechen sind, wird zu diskutieren sein – zumal im Blick auf die Plausibilität von sogenannten »orthodoxen Korruptionen« (B. Ehrman), d. h. theologisch motivierten Varianten. Dabei hat M. gute Argumente auf seiner Seite.
Mit den Informationen zur formalen Gestaltung der untersuchten Manuskripte, die im Manuskripte-Katalog und in den ta­bellarischen Übersichten vorliegen, bietet M. eine Materialsammlung, die geradezu danach ruft, für vielfältige Weiterarbeit genutzt zu werden.