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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

915–918

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie (14.–18. September 2014 in Berlin).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 1056 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 44. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-04167-1.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Der Bonner Praktische Theologe Michael Meyer-Blanck, zugleich Vorsitzender der »Wissenschaftlichen Gesellschaft«, hat diesen Ta­gungsband zum Berliner Kongress von 2014 herausgegeben. Mit seinen über tausend Seiten lässt er sich freilich kaum noch sinn-voll rezensieren. Man muss sich zwangsläufig auf Schlaglichter be­schränken. Grundsätzlich gliedert sich der Band in die zehn Hauptvorträge (17–230 mit dem Eröffnungsvortrag) und in die jeweiligen Beiträge zu den Fachgruppen (231–1029) des Alten (sieben; 233–380) und Neuen Testaments (sieben; 381–518), der Kirchengeschichte (acht; 519–690), der Systematischen (acht; 691–815) und Praktischen Theologie (vierzehn; 816–1029). Ein Personen– und Sachregister schließt den Band ab (1034–1051).
1. Zweifellos war der Berliner Kongress von der hundertjährigen Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs 1914 beeinflusst. Richard Schröder schlägt dieses Thema der »Gedenkjahre als Herausforderungen an die Theologie« in seinem Eröffnungsvortrag an (17–34). Interessant ist, dass er als Gedenkjahre 1914 und 1989 ge­wählt hat, aber das gewiss nicht minder einschlägige »1933« gemieden. Aber kann man 1989 und die Rolle der evangelischen Kirche in der DDR ohne die Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen verstehen? < /span>Thomas Römer referiert bei den Hauptvorträgen über die »Erfindung der Geschichte im antiken Juda« (mit Blick aufs deuteronomistische Geschichtswerk, 37–57) und Christof Landmesser über Geschichte in neutestamentlicher Perspektive (insbesondere Paulus, 76–95). Wolf-Dieter Schäufele thematisiert die Eschatologie »als kirchengeschichtlichen Epochenmarker« (96–127), der Hallenser Systematiker Jörg Dierken trägt eine Zusammenfassung seiner Argumente aus dem religionsphilosophischen Fortschrittsbuch von 2012 vor (157–172), Elisabeth Gräb-Schmidt Überlegungen zur »Zukunft des Gedächtnisses als Erinnern der Vergessenen« (186–205) und schließlich Wilhelm Gräb über individuelle Sinndeutung durchs Gebet (206–230).
Von den Nichttheologen referiert der Bonner Philosoph Markus Gabriel seine Sinnfeldertheorie (58–75), verbunden mit der Kritik des Totalitätsbegriffs und mithin des gegenwärtigen Naturalismus, Aleida Assmann ihr Konzept der Erinnerungskultur (173–185) und der Historiker Achim Landwehr (Düsseldorf) zu den Stationen des endzeitlichen Denkens seit dem 17. Jh. (128–156). M. Gabriels berechtigte Einrede gegen überzogene Wissensansprüche und den Totalitäts- bzw. Weltbegriff wird leider nicht auf den Reflexionsbegriff der Geschichte bezogen, was an sich nahegelegen hätte: markiert »die« Geschichte doch unverkennbar eine gedachte und im­mer nur unabschließbar zu erforschende Totalität (den Horizont des subjektiven und objektiven Geistes, wie Hegel gesagt hätte).
2. Als ein roter Faden durch die Beiträge des Bandes zieht sich gewiss aus aktuellem Anlass das Thema Gedächtnis, Erinnerung und Gedenken. Dies kann freilich in zwei recht unterschiedlichen Weisen entfaltet werden: als Erinnerungskultur im Blick auf die Opfer der Geschichte und als historische Rekonstruktion der eigenen Disziplingeschichte. Auf diese Dichotomie wird zurückzukommen sein.
Im Hinblick auf die Erinnerungskultur differenziert A. Assmann eine »unverrückbare« »historische Wahrheit« einerseits, von der jeweils gegenwärtigen Neubewertung und Aneignung im in-dividuellen und kollektiven Gedächtnis andererseits (185; vgl. 695). Hinsichtlich der Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs fällt vor allem die multiperspektivische Europäisierung des deutschen Er­innerns an 1914 auf (181 ff.). Da die Erinnerungen allerdings durchgängig selektiv (und wohl auch interessegeleitet) bleiben, ist noch nicht geklärt, inwiefern sie sich von den traditionellen Me­thoden, Geschichtspolitik im Gegenwartsinteresse zu betreiben, un­terscheiden. E. Gräb-Schmidt vertritt die These eines konstitutiven Bezugs von Geschichte und Gott, so dass sich »unsere Geschichts- und Handlungsfähigkeit in der Anerkennung von Schuld zuspitzt«, worin sich die Ambivalenz der Moderne ausdrücke (189). Im Durchgang durch die Positionen von Hölderlin und Kierkegaard (und W. Benjamin) erblickt sie die Aufgabe darin, den Hinweis »auf die Schuld bzw. Metanoia, der ernst macht mit dem Rechnen Gottes in der Geschichte«, einzuschärfen (203). Die Anerkennung von Schuld impliziere die »Anerkennung jener radikalen Transzendenz, aus der in der Immanenz Freiheit gewonnen« werden könne (204).
Wie ein Echo darauf klingen die Beiträge der Systematiker Dietrich Korsch (719 ff.), Dorothee Schlenke (728 ff.) und Henning Theißen (747 ff.), die sich des Schuldthemas in Geschichte, Identität und kirchlichen Bekenntnissen annehmen. Die Exegetin Sandra Huebenthal wendet das Konzept des »Jesus remembered« auf die kulturwissenschaftliche Interpretation des Markusevangeliums an (395–411). Wilhelm Gräb schließlich stellt die, in erster Linie nationalprotestantischen Sinndeutungen von 1914 kritisch zur Debatte (209 ff.) und leitet so zur lebenspraktischen und individuellen Sinndeutungspraxis durchs Gebet über, die eine weniger überspannte Kontingenzbewältigung garantiere: »Dass überhaupt ein Sinn ist und ich mich in ihn einbezogen wissen kann, ist mir genug.« (227 ff.)
3. Alf Christophersen führt noch einmal anhand der aufgeheizten Debatten in der Weimarer Republik zwischen Heidegger, Hirsch und Tillich die Bedeutung nicht nur der Interpretation, sondern vor allem auch des erhobenen Gestaltungsanspruchs der Geschichte vor (592–603). In der Systematischen Theologie versucht Roderich Barth, die gegenwärtige Erinnerungskultur an die bewährten Muster der Geschichtsphilosophie von Ernst Troeltsch insbesondere in dessen Historismusband anzuschließen (691–708). Troeltsch habe zu Recht »die religiösen Implikationen des historischen Bewusstseins klar und deutlich bestimmt« (706). Barth erblickt den Sinn solcher religiösen Deutungsleistungen vor allem in der »symbolisch vermittelten Endlichkeitsreflexion mit Bezug auf unseren Umgang mit Vergangenheit im Spannungsfeld von Gegenwart und Zukunft« (707). Christian Polke sieht die traditionelle theistische Rede von Gott angesichts der modernen Geschichte gar »mit dem Rücken zur Wand« stehen, was nicht zuletzt daher rührt, dass er die personale Redeweise von Gott immer schon vorausgesetzt sein lässt, ohne sich zu fragen, ob und inwieweit sie heute im Kontext der Themenfelder Handlung, Zeit und Erzählung noch sinnvoll sein kann (780–798). Die dogmatische Behauptung der Freiheit Gottes dominiert daher den theologischen Umgang mit »der« Geschichte (788.792 ff.). Jörg Lauster schließlich liefert sozusagen den Theorierahmen seiner fulminanten »Kulturgeschichte des Christentums« von 2014 nach (709–718). Er referiert die Erinnerungskultur im Anschluss an Jan Assmann und kombiniert sie mit Versatzstücken der Pannenbergschen Geschichtstheologie und Christologie (709–713). Damit übernimmt Lauster die höchst problematische hermeneutische Annahme, dass die »subjektiven Verarbeitungsleistungen« von dem Ereignis (der Offenbarung) evoziert wären. Es bleibt aber wie schon bei Pannenberg vollständig unklar, wer überhaupt beurteilen kann, was angemessene und was unangemessene »Explikationsformen« dieser vorausgesetzten Offenbarung sind (713). Natürlich liegt die Pointe einer solchen These im Abweis des leicht sich einstellenden religionskritischen Einwandes (vgl. 714.717), der allen subjektiven Verarbeitungsleistungen entzogene und extern gesetzte »Grund« sei selbst nur von Gnaden des in Wirklichkeit diesen begründenden religiösen Bewusstseins!
4. Erinnern und Gedenken kann aber auch anders als Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Disziplin verstanden werden. Gleich vier Beiträge in der neutestamentlichen Abteilung befassen sich vor allem mit Problemlinien der Exegese im 19. und 20. Jh. Anders Gerdmar (Uppsala) schildert in Zusammenfassung seiner Studie von 2009 an J. T. Beck und F. Chr. Baur die Wurzeln eines »exegetical antisemitism« (435–441). Roland Deines (Nottingham) verfolgt die Stellung der Neutestamentler W. G. Kümmel (448 ff.), O. Cullmann (451 ff.), R. Bultmann (454 ff.), W. Grundmann (469 ff.) und G. Kittel (475 ff.) zur nationalsozialistischen Machtergreifung und zur Person Hitlers (442–482). Otto Merk erinnert noch einmal an R. Bultmanns Zeitgenossenschaft vor allem unterm Nationalsozialismus unter dezidierter Ablehnung jeglicher »Politischer Theologie« (501–518). Der Mainzer Kirchenhistoriker Johannes Wischmeyer führt in seiner Studie »Ideologisierung durch konsequenten Historismus« luzide vor, wie bei Emanuel Hirsch ein spezifisch religiös verengtes Historismusverständnis auf der Makroebene mit den noch entlegensten literarkritischen Operationen – etwa bei seiner These von der nichtjüdischen Abstammung Jesu (490 f.) und im Kampf gegen die Formgeschichte (492 ff.) – in dessen neutestamentlichen Publikationen zusammenhängt (483–500). »Die Realisierung seines disziplinübergreifenden christologischen Ansatzes hatte […] eine exegetische Fundierung zur zwingenden Voraussetzung.« (499) Dass Hirsch einer bestimmten politischen Ideologie verfallen war, ist natürlich keine Neuigkeit; wie Wischmeyer aber deren Spuren bis in all ihre exegetischen Details und Verästelungen hinein nachzeichnet, dagegen schon.
5. Der Berliner Kongress stellte sich der Aufgabe »einer theologischen Interpretation von Geschichte« (5). Wie man merkt, ist diese Aufgabe in keiner Weise eindeutig. Sie kann bedeuten, den Sinn von Totalitätsbegriffen (wie Gott, Welt und Geschichte) überhaupt (philosophisch) näher zu bestimmen. Sie kann der Frage nach dem ominösen »Und« zwischen Gott und Geschichte nachgehen. Sie kann die Möglichkeit und Grenzen der Erinnerungskultur insbesondere mit Blick auf die Opfer der Geschichte und menschliche Schuld ausloten. Sie kann sich als Kulturgeschichte des Christentums ausarbeiten. Sie mag genauso gut darin bestehen, die Geschichte der eigenen Disziplin (und ihrer Verirrungen) kritisch zu rekonstruieren. Sie kann sich mit den vielfältigen eschatologischen Erwartungen des Endes der Geschichte beschäftigen (vgl. 76 ff.96 ff.128 ff.142 ff.). Man fragt sich allerdings, ob und wie überhaupt diese Polyphonie zusammengehalten wird. Am meisten fällt auf, dass einerseits natürlich weit läufig von historischer Forschung Gebrauch gemacht wird, dass man aber andererseits nur selten auf den Zusammenhang von mo­derner Geschichtswissenschaft und all den vielfältigen theologischen und auch nichttheologischen Deutungen von Geschichte reflektiert. So lässt sich der Verdacht nicht ganz abweisen, dass all die schönen Erinnerungs- und Gedächtniskulturen auch nur wieder auf einen historistischen Eskapismus herauskommen.