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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

904–906

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Beck, Johannes U.

Titel/Untertitel:

Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 579 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 53. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04285-2.

Rezensent:

Peter Müller

Die 2015 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Tübingen angenommene, von Christof Landmesser betreute Dissertation von Johannes U. Beck ist ein umfangreiches Werk mit 579 Seiten (ab 503 Literaturverzeichnis und Register; etwa die Hälfte besteht allerdings aus Anmerkungen, deren Ausführlichkeit nicht immer nötig wäre). Sie ist dem Verstehen des Markusevangeliums gewidmet und steht in einer »Kette von Interpretationen«, »die dadurch, dass sie der vom Text vor- und aufgegebenen Richtung folgen, allererst den Horizont der Erschließung des Markusevangeliums eröffnen« (5). Hier deutet sich schon die Gliederung der Arbeit an: Nach einer Einführung, die den Aufbau der Untersuchung darlegt (13–40), werden in einem ausführlichen Kapitel zunächst die »Voraussetzungen einer dem Markusevangelium adäquaten Texthermeneutik« dargelegt (Kapitel II, 41–156). Im Rückgriff auf wichtige hermeneutische Entwürfe (Heidegger, Bultmann, Fuchs, Figal, Schapp und vor allem Ricœur) werden hier die Grundlagen für den eigenen texthermeneutischen Zugang erarbeitet, als dessen wesentliche Elemente die Fragen nach dem Text, dem Verstehen und nach der Existenz des Interpreten genannt sind (158).
Diesen drei Fragestellungen geht das Kapitel III nach (157–237). Im Blick auf den Text werden Sprache, Kohärenz und die Frage nach dem Evangelium als Werk »sui generis« behandelt; beim Verstehen geht es um das jeweilige Verhältnis von Verstehen und Interpretation, Metapher und Narration sowie Narration und Figuration, bei der Frage nach der Existenz vor allem um den Begriff der Aneignung und das Verhältnis von Glauben und Verstehen. Für die Verbindung von Textwelt und Lebenswelt des Interpreten ist nach B. der von Ricœur übernommene Begriff der Aneignung zentral (218  ff.), der als Zu-Eigen-Machen von bisher Unbekanntem und Unrealisiertem bestimmt wird. Der hermeneutische Vorgang wird dabei wechselseitig dargestellt, da der zu verstehende Text in seiner Kohärenz zunächst konstruiert werden muss: »Folglich kulminiert der zwischen dem auszulegenden Gegenstand und dem Ausleger im Moment der Verschränkung der jeweils entworfenen Welt stattfindende Austausch in der Auslegung der Gegenwart des Lesers durch das Phänomen des Textes im Vollzug der Interpretation« (221). Anders gesagt: Es geht B. darum, die für die Untersuchung des Markusevangeliums gewählte und eine am Text des Evangeliums erschlossene Hermeneutik wechselseitig aufeinander zu beziehen, denn die theoretisch entwickelte »Texthermeneutik« setzt die kohärente Ganzheit des Evangeliums voraus, die aber am Text umgekehrt erst zu erweisen ist.
Im umfangreichen Kapitel IV (239–479) kommt dann die »Hermeneutik im Markusevangelium« tatsächlich zur Sprache. Die Ganzheit des Werkes zeigt sich dabei als kohärente Vielfalt (nach Ricœur: Synthesis des Heterogenen, 169). Ihr geht B. zunächst auf der Erzählebene und in einem weiteren Schritt auf der Diskursebene nach. Auf der Erzählebene (242–329) geht es vor allem um die Untersuchung von Textabschnitten, in denen spezifische, hermeneutisch konnotierte Termini zur Beschreibung der Verhaltensweisen der Erzählfiguren Verwendung finden (239–241). Als Gegenstand bzw. »Gegenüber des Verstehens« werden die Präsenz des Reiches Gottes in der Person Jesu sowie die Lehre Jesu als Vermittlung des Reiches Gottes genannt (242). Dabei spielt 1,14 f. eine herausragende Rolle und wird als »hermeneutisch bestimmte Enteignung zugunsten der Aneignung des Verkündigten« interpretiert (253; die Zusammenstellung dieses grundlegenden Verses mit 12,34 ist un­ter dieser Perspektive allerdings eher fraglich). Die hier von Jesus vorgetragene »Neuausrichtung des Selbstverständnisses« (so 251 zu 1,14 f.) wird von verschiedenen Personengruppen jedoch nicht oder nur teilweise mitvollzogen (Jünger, Volk, Familie, religiöse Autoritäten, Dämonen, 296–330), wobei die Jünger trotz ihrer Nähe zu Jesus anhaltend unverständig bleiben. Das erarbeitete Wechselverhältnis von Aneignung und Enteignung wird sodann auf der Diskursebene (330–480) des Evangeliums untersucht, und zwar im Blick auf die bleibende Vorläufigkeit des Verstehens der Identität Jesu, die Person Jesu als Vermittler des Gottesreiches und auf das Verstehen im Sinne der Aneignung einer der Person Jesu und ih-rer Verkündigung entsprechenden Weltsicht (330–480). Ein kurzer Schlussabschnitt zum »Verstehen des Verstehens« (481–501) rundet die Untersuchung ab.
Im Zentrum dieses »Verstehensprojekts« stehen die Begriffe »An­eignung« und »Enteignung«. Aneignung versteht B. als ein umfassend existenziell zu denkendes Interpretationsgeschehen, bei dem die Rezipienten ihr eigenes Welt- und Selbstverständnis vom Text her in Frage stellen lassen: Die Aneignung des von Jesus verkündigten und mit ihm repräsentierten Reiches Gottes ist so immer wieder nur als Enteignung, das heißt als »Preisgabe des eigenen, Welt und Selbst je schon innerweltlich erschließenden Wissens und der daraus resultierenden Wertvorstellungen möglich« (433; vgl. auch 410 und die Zusammenfassung 497–501). Bereits in der Grundlegung betont B., dass die »Zeugnisdimension des Evangeliums« dabei noch die Herausforderung an den Leser verstärkt, »die erschlossenen Propositionen oder deren Negationen in seine Lebenswelt zu integrieren« (219). Ein der inneren Kohärenz des Evangeliums angemessenes Verstehen ist deshalb letztlich »nur unter der Perspektive des Glaubens […] zu erschließen« (230).
Dass so weitreichende Aussagen zum Markusevangelium gemacht werden, bevor der Text selbst zur Sprache kommt, ist erstaunlich. Ein »Aneignungsprozess« im dargelegten Sinn scheint »gerade im Markusevangelium explizit als notwendiges Element des Verständnisses der Sache, die dort zu verstehen gegeben ist, thematisiert zu sein«, ist schon auf S. 158 zu lesen. 80 Seiten später, am Beginn der Textanalysen, heißt es dann: »Die Befragung des Markusevangeliums auf dessen hermeneutische Dimension dient […] der Legitimation der hier aufgezeigten Texthermeneutik« (239); zutreffender wäre wohl eher der Begriff »Bestätigung«, denn natürlich bestätigen die Textuntersuchungen das, was vorab bereits festgelegt wurde. Das soll nun nicht den Wert der Textbetrachtungen selbst schmälern; hier finden sich erhellende Ausführungen zu verschiedenen Textpassagen. Besonders sollen die Überlegungen zu Bartimäus (10,46–52), der Witwe im Tempel (12,31–44) und der Frau mit dem Salböl (14,3–9) hervorgehoben werden (weniger überzeugend die Ausführungen zu 14,51 f. und 15,39), die als »Metafigur« diskursiv miteinander verbunden sind und gemeinsam ein angemessenes Verhalten gegenüber Jesus und seiner Verkündigung beschreiben (466.476). Angemessen ist ihr Verhalten insofern, als es bei ihnen (jeweils unterschiedlich, aber strukturell vergleichbar) in der Begegnung mit Jesus und seiner Verkündigung zu einer »Enteignung« kommt, die mit einer »Aneignung des Geschicks Jesu un­ter Einschluss seines Leidens und Sterbens« korrespondiert (477). Das ist eine interessante Perspektive, die das komplexe Verhältnis von Nichtverstehen und Verstehen an dem Verhalten verschiedener Personengruppen Jesus gegenüber verdeutlichen kann. Das Paradox von Verlieren und Finden (der Seele) in 8,35 bringt dies gewissermaßen auf den Punkt und kann in dieses Verhältnis eingezeichnet werden (427–430).
Auch die »gesamtmarkinische Spannung von Offenlegung und Verhüllung« der Person Jesu (362) wird nachvollziehbar herausgearbeitet (wenngleich die Vorstellung vom Markusevangelium als narrativem Werk, »das im Zirkel immer wieder neu gelesen werden soll« [363 im Anschluss an Sellin], m. E. nicht ausreicht; das Evangelium soll nicht lediglich neu gelesen, sondern eigenständig verkündigt werden). Insgesamt bin ich allerdings nicht sicher, ob die Begriffe von »Aneignung« und vor allem »Enteignung« eine so prominente Rolle spielen würden, wenn die Untersuchung ihren Ausgangspunkt nicht bei der hermeneutischen Theoriediskussion, sondern beim Text des Markusevangeliums genommen hätte.