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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1219–1221

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wieringen, Archibald L. H. M. van

Titel/Untertitel:

The Implied Reader in Isaiah 6-12.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1998. IX, 300 S. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 34. Lw. hfl. 160.-. ISBN 90-04-11222-7.

Rezensent:

Jörg Frey

Ein Buch zu besprechen, das in seinem Ansatz von den eigenen methodischen Überlegungen völlig abweicht, ist ein schwieriges Unterfangen. Ich möchte es v. a. so tun, daß der Leser über das zu besprechende Buch orientiert wird.

Ein impliziter Leser läßt sich knapp als "Konstruktionsfaktor des Werkes" eines impliziten (oder auch abstrakten) Autors verstehen. Dabei ist dieser implizite Leser gleichsam ein Beiprodukt des Werkes dieses impliziten Autors, also nur in Abhängigkeit von diesem zu begreifen (vgl. Hannelore Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme [UB 215], Stuttgart u. a. 1976, bes. 39-43. Das Zitat ebd. 43 stammt aus einem Aufsatz des Germanisten G. Jäger). Insofern ist zu erwarten, daß auch in der Analyse von van Wieringen die Frage nach dem impliziten Leser eine ist, die sich nur aufgrund der Analyse des Werkes des impliziten Autors von Jes 6-12 beantworten läßt. Diese Erwartung wird in der Tat erfüllt.

Aber der Reihe nach! W. legt zunächst das methodische Instrumentarium dar, mit dem er die vorliegende Endfassung des genannten Abschnitts von Jes zu bearbeiten gedenkt (Kap. 1, 1-26). Es sind drei Schritte: einmal eine textlinguistische Analyse, dann eine sog. "domain analysis" und drittens eine Analyse des Kommunikationsvorganges. Alle drei bedürfen kurzer Bemerkungen. Bei der textlinguistischen Analyse geht es ihm, rückbezogen auf die Arbeit der Amsterdamer "Werkgroep Informatica" (E. Talstra u. a.), um eine schematische Darstellung der alsneues Licht auf die Schriftauslegung und die Entwicklung einzelner Gattungen im ,nachbiblischen’ Judentum. Noch grundlegender ist, daß aufgrund des neuen Materials auch die Klassifikation der Texte neu zu erörtern ist. Dies betrifft den Begriff der "Pseudepigraphen": Seit den Sammlungen von Kautzsch und Charles hat man damit vorrabbinische Werke (mit Ausnahme der Schriften von Josephus und Philo) bezeichnet, die weder im masoretischen Kanon noch in der LXX enthalten sind und folglich nicht unter die "Apokryphen" bzw. "deuterokanonischen Schriften" fallen. Dabei wurde die Unschärfe in Kauf genommen, daß manche "Apokryphen" (Baruch, Brief Jeremias, Weisheit Salomos) pseudepigraphisch im Sinne einer Autorschaftsfiktion sind, während z. B. das unter die "Pseudepigraphen" gezählte 4. Makkabäerbuch eine solche Fiktion nicht in Anspruch nimmt. Hier konfligieren eine pragmatische, am Bestand überlieferter Sammlungen orientierte Bestimmung des Begriffs mit einer literarischen, am Phänomen der "Pseudepigraphie" orientierten. Die zahlreichen, bisher unbekannten Texte aus der Bibliothek von Qumran machen die konventionelle Definition unbrauchbar und fordern eine neue, differenziertere Wahrnehmung von "Pseudepigraphie".

Dieser Aufgabe stellt sich der grundlegende Beitrag von Moshe Bernstein ("Pseudepigraphy in the Qumran Scrolls: Categories and Functions", 1-26). Angesichts der in Qumran erhaltenen pseudepigraphischen Texte schlägt er drei in ihrer Funktion unterschiedene Typen von Pseudepigraphie vor: 1) "Authoritative pseudepigraphy" verstärkt durch die Fiktion eines Autors der Vorzeit die Autorität des jeweiligen Werks (z.B. 1Henoch, 2Baruch, 4Esra, Testamentenliteratur). 2) "Conve-nient pseudepigraphy" dient nicht eigentlich der Autorisierung, sondern folgt nur Konventionen (wie die Zuschreibung von Weisheitsworten an Salomo, z. B. in Kohelet und Weisheit) und bringt zum Ausdruck, daß die realen Autoren sich der von jenem ,Vorvater’ begründeten Tradition zurechnen. 3) "Decorative pseudepigraphy" bringt einen Text mit einem Namen in Verbindung, ohne daß dies für den Inhalt irgendeine Auswirkung hat (z. B. das Gebet Manasses). Diese Kategorisierung ist in mehrfacher Hinsicht hilfreich. Sie überwindet die überkommene Rede von "Pseudepigraphen" und nimmt die Fülle der Formen von Pseudepigraphie auch in der hebräischen Bibel ernst. Ihre Gefahr ist nur, daß sie den Begriff sehr weit faßt und damit eine noch größere Fülle von Texten zu erfassen hat.

Am Spezialfall der halachischen Texte erörtert Lawrence H. Schiffman ("The Temple Scroll and the Halakhic Pseudepigrapha of the Second Temple Period", 121-131) die Frage der Klassifikation. Das Problem, ob und inwiefern auch die Tempelrolle ein Pseudepigraphon sei, wird hier auf dem Hintergrund des Jubiläenbuchs und anderer Pseudo-Mose-Texte erörtert. Dabei unterscheidet Schiffman verschiedene Grade mosaischer Vermittlung und Autorschaft. Da die Tempelrolle in den erhaltenen Partien keinerlei Indizien mosaischer Vermittlung zeigt, ist sie nach Schiffman als Werk "divine halakhic pseudepigraphon" (131) anzusehen. Weit über den Horizont hinaus greift der Beitrag von Marc Bregman ("Pseudepigraphy in Rabbinic Literature", 27-41). Er diskutiert das Problem der in der rabbinischen Literatur belegten neu geschaffenen Worte Gottes an einzelne Weise und die Spannung zwischen der offenkundigen Kreativität der Zuschreibung von Aussprüchen einzelner Rabbinen und der häufigen Betonung der historischen Richtigkeit dieser Zuschreibungen. In Aufnahme von Isaak Heinemanns Rede von der für das rabbinische Denken kennzeichnenden "creative philology" und "creative historiography" lasse sich die rabbinische Praxis als "creative attribution" bezeichnen (40).

Mehrere Beiträge gehen der Frage nach den Trägerkreisen der Texte und ihren Motiven nach. Auf dem Hintergrund der Beobachtung, daß in den von der ,Qumrangemeinde’ verfaßten Texten keine Pseudepigraphie begegnet, interpretiert John J. Collins ("Pseudepigraphy and Group Formation in Second Temple Judaism", 44-58) die Zuschreibung von Texten an Henoch, Daniel oder Mose als Indiz für die Existenz zu unterscheidender Gruppen im Judentum der makkabäischen Zeit. Während der für die Gründung der ,Qumrangemeinde’ maßgebliche ,Lehrer der Gerechtigkeit’ eher Weiser und Schriftausleger als apokalyptischer Visionär war, behielten die Weissagungen aus den an Henoch und Daniel orientierten Kreisen einen wichtigen Platz in der Bibliothek der Gemeinschaft; dennoch muß man zwischen der später in Qumran ansässigen Gemeinschaft und ihren unterschiedlichen ,Vorläufer-Bewegungen’ unterscheiden. G. W. E. Nickelsburg ("The Nature and Function of Revelation in 1Enoch, Jubilees, and some Qumranic Documents", 91-119) vergleicht Konzeption und Themen der Offenbarung in Werken wie 1Henoch und Jubiläen und in den Texten aus der Qumrangemeinde. Formal bestehen Differenzen. Insbesondere sind die in der Gemeinde selbst verfaßten Texte nicht pseudepigraph. Dennoch zeigen sich große Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Inhalts der Offenbarung (Halacha und Ethik, Eschatologie und evtl. Kosmologie) und ihrer Funktion, insofern die Offenbarung der Formung einer durch sie konstituierten ,eschatologischen Gemeinschaft’ und ihrer polemischen Unterscheidung von anderen Gruppen dient. In einem sehr anregenden Beitrag ("The Axis of History at Qumran", 133-149) stellt Michael E. Stone heraus, daß in Qumran insbesondere Pseudepigraphen aus einer bestimmten Linie der Väter Israels erhalten sind: In Texten, die Levi, Qahat und Amram zugeschrieben werden, zeigt sich priesterliches Interesse, in anderen Texten wird die priesterliche Tradition noch weiter auf Noah zurückgeführt. Dies läßt nach Stone auf ein bestimmtes Verständnis der Welt und des Ursprungs des Bösen schließen, das nicht auf den Fall im Paradies, sondern auf einen mythischen Fall der Wächter und dämonische Einwirkung zurückgeführt wird. In dieser Sicht wird Noah für die nachsintflutliche Welt zum Vater des Opferkults. Die Bevorzugung einer solchen ,alternativen’ Sicht des Priestertums in der Qumran-Bibliothek läßt sich nach Stone aus der Erfahrung der Krise des Tempelkults unter Antiochus IV. erklären.

Zwei Studien sind der Levi-Tradition gewidmet: Marinus de Jonge ("Levi in Aramaic Levi and the Testament of Levi", 71-89) bestreitet (gegen R. Kugler, From Patriarch to Priest. The Levi-Priestly Tradition from Aramaic Levi to Testament of Levi, Atlanta 1996) die Existenz einer jüdischen ,Vorlage’ zwischen dem ’Aramaic Levi Document’ und dem (nach de Jonges Auffassung ganz christlichen) Testament Levis. Betsy Halpern-Amaru ("The Naming of Levi in the Book of Jubilees", 59-69) erörtert die ,zweite’ Benennung Levis im Isaaksegen Jub 31,16 im Rahmen der Konzeptionen des Jubiläenbuchs über die ,Familienverhältnisse’ der Patriarchen. Zwei weitere Beiträge gelten dem Jubiläenbuch: James C. VanderKam ("The Angel Story in the Book of Jubilees", 151-170) untersucht die Verarbeitung des Engelfalls im Jubiläenbuch und weist nach, daß der Autor die Geschichte aus dem Wächterbuch 1Hen 6-16 verwendet und nach seinen Interessen umgestaltet hat. Cana Werman ("Qumran and the Book of Noah", 171-181) zeigt, daß dem Autor des Jubiläenbuches auch das ’Aramaic Levi Document’ vorlag, von einem ,Buch Noahs’ wisse er jedoch nur vom Hörensagen.

Der Beitrag von Benjamin G. Wright gilt den möglichen christlichen Nachwirkungen eines ,neuen’ Pseudepigraphon ("Qumran Pseudepigrapha in Early Christianity. Is 1Clem. 50:4 a Citation of 4QPseudo-Ezekiel [4Q385]?", 183-193). Wright vermutet, daß das Schriftzitat in 1Clem 50,4, das Jes 26,20 und Ez 37,12 kombiniert, aus dem gleichen Pseudo-Ezechiel-Text stammt, von dem in Qumran Fragmente gefunden wurden. Angesichts der methodischen Probleme bleibt es allerdings bei dieser Vermutung, ein klarer Nachweis einer Zitierung gelingt nicht.

Die 11 Beiträge sind durch Register der Belege, antiken und mythologischen Figuren, Orte und modernen Autoren (195-217) erschlossen. Den Herausgebern gebührt Dank für eine sorgfältig edierte Sammlung gründlicher und anregender Beiträge, die die offene Diskussion um "Pseudepigraphen" und "pseudepigraphische" Texte im antiken Judentum weiterführen wird.