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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

890–892

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Xeravits, Géza G., u. Peter Porzig

Titel/Untertitel:

Einführung in die Qumranliteratur. Die Handschriften vom Toten Meer.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XIV, 318 S. = De Gruyter Studium. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-034975-7.

Rezensent:

Ulrich Dahmen

Nach der Phase der Rekonstruktion, Entzifferung und Edition aller Qumrantexte tritt die Qumranforschung nun an, die inhaltliche und theologische Erforschung der Texte nach aus der Bibelwissenschaft bekannten und gängigen exegetischen Arbeitsmustern entscheidend voranzutreiben. Die Semantik des Vokabulars im Spannungsfeld zwischen Altem und Neuem Testament sowie der frühjüdischen und tannaitischen Literatur ist weitgehend entschlüsselt und erhoben (ThWQ); mehrere Kommentarreihen und -projekte (Hermeneia; Oxford Commentary on the DSS; Herders Theologischer Kommentar) sind in Vorbereitung. Neben den Einführungen in das Gesamtphänomen »Qumran« (Schubert, Stegemann, VanderKam, Stökl Ben Ezra) der letzten 60 Jahre war bislang eine klassische »Einleitung« in die Qumranliteratur ein Desiderat der Forschung, das durch das hier anzuzeigende Buch erstmals behoben wird – auch wenn die Verfasser in Selbstbescheidung den Titel »Einführung« anstelle von »Einleitung« gewählt haben (V). Gleichwohl geht es um Entstehungsgeschichte, Aufbau (bei den »großen«, weitgehend vollständig erhaltenen Manuskripten) und Inhalte von Literatur, leider weniger um Theologie.
Die grundsätzliche Problematik bei den Texten vom Toten Meer, der es Herr zu werden gilt, ist die Tatsache, dass hier kein fest umrissener Cluster, schon gar kein »Kanon« von Texten vorliegt, sondern eine offene Sammlung, deren Zusammensetzung, Ab­grenzung, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer oder mehreren be­stimmten Trägergruppe(n) weiterhin umstritten sind. Die Autorität/Gültigkeit oder Wichtigkeit/Wertigkeit einzelner Kompositionen ist weder über die Qualität ihrer finalen Aufbewahrung (Höh­len 1 und 11) noch über die Quantität/Anzahl ihrer Exemplare ausreichend einzuholen. Die Unterscheidung zwischen »sectarian« und »non-sectarian« Texten ist an den Rändern umstritten, zum Teil sogar fließend. Von daher stellt sich die Frage, wie man ein solches Korpus von Handschriften ordnet, um ihm einleitungswissenschaftlich beizukommen. Die Entscheidung der Autoren fiel, durchaus plausibel und begründet (12–14), aber eben auch hinterfragbar, zugunsten von literarischen Gattungen und Genres aus: »biblische« Handschriften (23–47); parabiblische Texte (48–100); exegetische Texte (101–139); Ordnungen und Rechtstexte (140–173); Kalendertexte (174–183); liturgische und poetische Texte (184–216); Weisheitstexte (217–241); historische Texte (242–264); eschatologische und apokalyptische Texte (265–297); eine vollständige Liste aller Qumrantexte mit ihrem jeweiligen Publikationsort (DJD; Lohse/Steudel; PTSDSSP; DSSR) (298–318) schließt das Buch ab. Die Unterscheidung von »sectarian« und »non-sectarian« bzw. »genuinen« und »nichtgenuinen« Qumrantexten (hier ist im Deutschen eine ungute Multiplizierung der Nomenklatur zu bemerken; D. Stökl Ben Ezra spricht neuerdings von »jachadisch« und »nicht-jachadisch«) wird zwar problematisiert (10–12), spielt im Folgenden bei der Anordnung des Materials in den Genre-Kapiteln aber keine Rolle mehr, wäre aber als erstrangiges Ordnungsprinzip geboten gewesen – eine Hierarchisierung des Ma­terials findet also nicht statt. Das führt dazu, dass einige der großen u nd wichtigen Handschriften innerhalb ihrer Unterkapitel eher unter »ferner liefen« zu stehen kommen: z. B. die Hodayot (1QH) am Ende der liturgischen und poetischen Texte (211–216) oder die Kriegsregel (1QM) innerhalb der eschatologischen und apokalyptische Texte (276–281). Die Hodayot werden inhaltlich mit nur knapp drei Seiten (214–216) geradezu stiefmütterlich behandelt (im Vergleich dazu: 1QS knapp acht Seiten; 4QMMT sieben Seiten). Auch zur Gebetssammlung 4Q504 (DibHama) hätte man in der materialen Rekonstruktion von E. Chazon (abgedruckt in DSSR) sicher wesentlich mehr sagen können. So werden insgesamt rund 60–70 Texte und Kompositionen neben Überblicken über bestimmte Genres abgehandelt, innerhalb derer faktisch jedoch ein Vielfaches an Manuskripten zur Sprache kommt.
Aufgearbeitet wird das Material nach einführenden Literaturhinweisen jeweils über den »handschriftlichen Befund« und »einführende[n] Bemerkungen«, teilweise ergänzt durch Informationen zu Aufbau bzw. (Grob-)Gliederung des Textes (z. B. 75 zur Tempelrolle; 144 f. zu 1QS; 158 f. zu CD/4QD u. ö.). Abgewichen von diesem System wird an wenigen Stellen, wenn eine »Problemanzeige an­hand ausgewählter Beispiele« (40–47) oder grundsätzlich Hermeneutisches zu einem bestimmten Genre (hier: Pescharim; 102–107 u. ö.) geboten werden. Beim »handschriftlichen Befund« werden alle zu einem Text, einer Komposition oder dem literarischen Genre (Pescharim: kontinuierlich; thematisch; weitere) gehörenden Manuskripte mit ihrer paläographischen Datierung aufgelistet. Die Grenzen sind auch hier fließend, wenn bei den Hodayot die sogenannten »4QHodayot-like Texts A-D« mit aufgeführt sind (212), Ähnliches bei 4QInstr mit »4QInstr-like Texts A-B« (4Q419; 4Q424) aber nicht geschieht (224). Die »einführende Bemerkungen« beschreiben dann jeweils Inhalt und Bedeutung der Komposition; eine Differenzierung nach »sectarian« und »non-sectarian« Texten unterbleibt auch hier durchgehend, wäre aber für das Verständnis und die Einordnung einer Schrift doch von Bedeutung.
Eine einleitungswissenschaftliche Behandlung der biblischen Qumran-Manuskripte (23–47) erübrigt sich eigentlich, insofern deren Inhalt/deren Bücher genuiner Bestandteil einer biblischen/ alttestamentlichen Einleitung sind. Das, was die biblischen Manuskripte aus Qumran zu deren Erhellung beitragen können, wäre dort zu integrieren und gehört im weitesten Sinn in den Bereich der Methodik, näherhin der Textgeschichte, zum Teil auch der Redaktionsgeschichte.
Ähnliches gilt – wenn auch mit Abstrichen – für die Apokryphen bzw. Pseudepigraphen (z. B. Jub; Hen; Tob; ALD; Testamentenliteratur u. a.; 48–100). Deren Einleitungswissenschaft ist kein speziell qumranisches Forschungsfeld; relevant sind die qumranischen Manuskripte dort, wo sie die ursprünglichen hebräischen (Jub; Tob) und aramäischen (Tob; Hen; Gigantenbuch) Textformen repräsentieren, die wichtige Einsichten für das einleitungswissenschaftliche Verständnis dieser Kompositionen bereitstellen.
Dass bei den exegetischen Texten (101–139) weder der Habakuk-Pescher (1QpHab) noch der Psalmen-Pescher (4Q171) als eigenständige und vor allem wichtige Texte der Qumrangemeinschaft wahrgenommen und eines einleitungswissenschaftlichen Blicks für würdig gehalten werden, ist ein Versäumnis, das erheblich negativ zu Buche schlägt! Gerade in diesem Kapitel wird deutlich, wie sehr die Engführung auf literarische Genres und deren hermeneutische (102–107) und thematische (113–115.120–125) Eigenarten den Blick auf die Einzelkompositionen als eigenständige Texte, die sich jeweils selbst aussprechen können müssten, verstellt wird. Auch andere wichtige Texte wie die Tohorot (4Q274–278) werden unter den Regeltexten nur en passant gestreift mit wenigen Zeilen (173).
Nicht nachvollziehbar ist für den Rezensenten die Einordnung der Segensregel (1QSb) unter die eschatologischen Texte (284–289) – sie ist Bestandteil der Sammelhandschrift 1QS (ein Regeltext) und sollte auch als solcher ernst genommen werden – oder einzelner Psalmen (Ps 154; Hymn to the Creator) aus 11QPsa in die Weisheitstexte – Psalmen per se sind poetische Texte, auch wenn sie weisheitliche Inhalte thematisieren – oder des Buches Tobit in die historischen Texte – Tobit ist ein apokrypher, parabiblischer Erzähltext, der romanhaft fiktiv erzählt, aber sicher keine historisch auswertbaren Fakten transportiert. Über manche Genre-Zuweisungen kann man trefflich diskutieren: Ist die Kriegsregel (1QM) ein eschatologischer Text (so hier) oder doch ein Regeltext (so in ihrem eigenen Titel) oder vielleicht sogar ein liturgischer Text, wenn sie die finale Schlacht als ein Kultdrama oder als liturgisches Formular für eine religiöse Begehung nach festen Rubriken zeichnet? Solch wichtige, gleichwohl ungelöste Fragen führen dazu, dass z. B. die Gemeinderegel 1QSa und 4QMMT in zwei verschiedenen Kapiteln des Buches besprochen werden.
Schließlich stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Aufnahme mancher Texte in das Buch. Einleitungswissenschaftlich kann ehrlicherweise nur über solche Manuskripte/Werke eine Aussage gemacht werden, deren Gesamtumfang bzw. -komposition wenigstens ansatzweise erkennbar ist. Da bleiben nicht so arg viele übrig. Hier wäre weniger sicher mehr gewesen. Dazu gehören sicherlich nicht die historischen Texte 4Q248; 4Q331–333; 4Q468e–f (241–245) oder die eschatologischen Texte 4Q462; 4Q475 (296 f.). Ähnlich fragmentarische Zeilen fände man auch in manchen weisheitlichen (4Q425–426) oder liturgischen (4Q409) Texten, die zu Recht unberücksichtigt blieben.
Die kritischen Anmerkungen sollen nicht den Blick dafür verstellen, dass man in diesem Buch umfassend und solide informiert wird. Allein die umfangreichen, manchmal fast vollständigen und immer aktuell (Stand: 2015) gehaltenen Literaturhinweise zu den einzelnen Manuskripten regen zum vertieften Weiterstudium an, weisen aber auch aus, wie sehr sich die Qumranwissenschaft inzwischen von den sie bislang (zumindest in Deutschland) tragenden Bibelwissenschaften emanzipiert, verselbständigt und spezialisiert hat. Dieses Buch kann und muss also auch ein Anstoß sein, vertieft über Möglichkeiten und vor allem Grenzen einer eigenständigen Qumranwissenschaft im Spannungsfeld von Bibelwissenschaft, Semitistik und Judaistik zu reflektieren.