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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

888–890

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Stemberger, Günter

Titel/Untertitel:

Mose in der rabbinischen Tradition.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2016. 256 S. = Veröffentlichungen der Papst-Benedikt XVI.-Gastprofessur. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-451-34055-0.

Rezensent:

Catherine Hézser

Dieser Überblick über die literarische Darstellung Moses in der rabbinischen Literatur, insbesondere im Babylonischen Talmud, basiert auf einer Vorlesungsreihe, die Günter Stemberger 2014 als Gastprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Re­gensburg gehalten hat. Dieser Kontext ist auch für den Vergleich der rabbinischen Tradition mit christlichen Analogien verantwortlich, der hier ansatzweise geleistet wird. Wie S. bereits in der Einleitung betont, gibt es bisher noch keine umfassende Untersuchung zur Sicht des Mose in rabbinischen Texten. Die sechs Vorlesungen gehen dieser Fragestellung in sechs zentralen Themenkomplexen nach – Geburt, Auszug aus Ägypten, Offenbarung der Torah, Führung des Volkes, Tod, Nachfolge –, die »biographisch« entlang der Bibeltexte entfaltet werden. S. bietet Übersetzungen und textnahe Interpretationen der jeweils wichtigsten Texte der rabbinischen Mose-Rezeption. »Größere Texteinheiten zu den einzelnen Themen findet man gewöhnlich erst in späteren Texten« (16), d. h. im Babylonischen Talmud und in spätantiken und frühmittelalterlichen Midrashim. Von diesen größeren Zusammenhängen ausgehend werden etwaige frühere Traditionen und abweichende Darstellungen untersucht.
Späte rabbinische Texte, die sich auf die Geburt, Bedrohung und Errettung Moses beziehen und einen fortlaufenden Kommentar zum Exodustext bieten (vgl. b. Sotah 12a–13a; Exodus Rabbah; der mittelalterliche Text vom »Leben Moses«, Kapitel 5–6), sind in der Vergangenheit manchmal als Vorlage für die Evangeliendarstellungen von der Geburt und Kindheit Jesu verwertet worden. Zwischen b. Sotah (Mose) und Mt 1–2 (Jesus) sind bestimmte Gemeinsamkeiten festzustellen: der Wunsch der Väter, sich von ihren schwangeren Frauen zu trennen; das Erscheinen von Engeln bzw. dem Mädchen in der Mose-Geschichte, die das Geschehen als »gottgelenkt« ausweisen; die Sterndeuter (Mt 2) bzw. Wahrsager Pharaos. Die rabbinischen Texte erscheinen in späten rabbinischen Sammelwerken und können nicht von den Verfassern der Evangelien gekannt und benutzt worden sein. Viel näher liegt die Annahme, dass es sich bei den rabbinischen Versionen um bewusste Gegenstücke zu den christlichen Versionen handelt, die den Rabbinen aus der mündlichen Überlieferung bekannt gewesen sein können. Auf diese Art und Weise versuchten die Rabbinen zu zeigen, dass die Mose-Geschichte nicht von der über Jesus erzählten Geschichte überhöht worden war. Im Gegenteil konnte sie »als Abklatsch der traditionellen Mose-Geschichte« betrachtet werden (66).
Der Auszug aus Ägypten ist der sowohl im Judentum als auch im Christentum am meisten aufgegriffene Text der Mosetradition. Auch hierbei nimmt S. an, dass die Rabbinen die »christliche Vereinnahmung Moses« (68) gekannt haben und auf sie reagierten. Insbesondere das Motiv des »Mose als Fürsprecher des Volkes bei Gott« (95) wird im Midrasch betont. Ansonsten versucht der Midrash aber »Mose nicht über Gebühr zu verherrlichen« (98), ihm keine übermenschliche Mittlerrolle einzuräumen.
Diese Tendenz ist auch in der rabbinischen Rezeption der Offenbarung der Torah an Mose am Sinai zu erkennen. S. schreibt: »Auch wenn einige späte Texte Mose als Empfänger der Tora in der himmlischen Welt mythologisch hervorheben, bleibt es doch eine grundlegende Tendenz der Rabbinen, Mose auf dem Boden zu belassen und die Offenbarung und Annahme der Tora als Erlebnis zu schildern, das ganz Israel im direkten Gegenüber mit Gott betrifft« (139). Bei Paulus und im Hebräerbrief wird dagegen Engeln eine Mittlerrolle zugeschrieben. S. zufolge »ist damit eine geringere Wertung der Tora gegenüber der Botschaft Jesu verbunden. Es liegt sehr nahe, dass rabbinische Texte, die eine Mittlerschaft durch Engel ablehnen, sich gegen christliche Vorstellungen richten« (105). In Abgrenzung gegenüber christlichen Positionen betonen die Rabbinen das direkte Handeln Gottes, der weder Engel noch menschliche Mittler benötigt. Erst im Babylonischen Talmud ist die Mittlerrolle Moses stärker herausgestellt und mythologisiert: Moses empfing die Torah im Himmel (b. Shabbat 88b–89a). Sollte es sich dabei um die Umkehrung des paulinischen Glaubenssatzes handeln, dass Jesus vom Himmel herabgekommen ist? Mose steigt in den Himmel und bringt die Torah als Geschenk Gottes – Jesus kommt aus dem Himmel und bringt die Gnade Gottes. S. vermutet, dass hier die jüdische Deutung der christlichen Interpretation gegenübergestellt ist.
In Bezug auf Mose als Führer des Volkes werden einige wenige Episoden exemplarisch aufgegriffen. Die besonders seine Weisheit betonenden Texte orientieren sich »an den Vorstellungen der Rabbinen, wie ein idealer Führer der jüdischen Gemeinde handeln soll« (184 f.). Besonders interessierte die Rabbinen die Frage, warum Mose nicht ins Gelobte Land einziehen durfte, gerade auch, weil viele Gebote nur im Land Israel eingehalten werden konnten. In der Bibel bleibt die Begründung unklar. Neu ist im Midrasch der Mose von den Rabbinen zugeschriebene Versuch, Gott durch sein Bitten umzustimmen – ein Motiv, das im Babylonischen Talmud noch weiter entfaltet wird.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Darstellung Moses als Lehrer. Außer bei Philo von Alexandrien wird Mose in der nachbiblischen jüdischen Rezeption selten als Lehrer dargestellt. In den Evangelien beruft Jesus sich dagegen auf Mose in seiner Auseinandersetzung mit Pharisäern und Schriftgelehrten, was besonders auch in der Bergpredigt zum Ausdruck kommt. Mt 23 zufolge wurde die Lehrautorität des Mose von den Pharisäern und Schriftgelehrten fortgesetzt. In der rabbinischen Literatur begegnet die Formulierung »Moshe Rabbenu« noch nicht in der Mischna, sondern hauptsächlich in späteren Texten. Daneben wird die rabbinische Traditionskette der halachischen Überlieferung auf Mose am Sinai zurückgeführt, um rabbinische Lehrmeinungen zu legitimieren. Als »Schüler Moses« betrachten die Rabbinen es als ihre Aufgabe, »seine Botschaft für die je eigene Zeit lebendig zu halten« (239) und an ihre Nachfolger weiterzugeben.
Diese Zusammenstellung und Diskussion von Texten kann als hilfreicher Ansatz für weitere Untersuchungen zur nachbiblischen und rabbinischen Mose-Rezeption dienen. Dabei mögen auch stärker christliche Vergleichstexte herangezogen und die rabbinischen und christlichen Interpretationen in ihrem jeweiligen historischen, sozialen, und theologischen Kontext verstanden werden. Da viele Themen erst im Babylonischen Talmud in Erscheinung treten, mag man auch fragen, wie sie auf dem Hintergrund der persisch-zoroastrischen Kultur zu verstehen sind. Das Buch ist vor allem Neutestamentlern und Patristikern zu empfehlen, die das christliche Mosebild mit dem rabbinischen vergleichen wollen und bereit sind, sich von der traditionellen Hypothese eines rabbinischen Einflusses auf neutestamentliche Darstellungen zu trennen. S.s Ergebnisse bestätigen die Notwendigkeit einer Umkehrung der Perspektive, die die Rabbinen in einem konstruktiven Diskurs mit christlichen Vorstellungen stehend sieht.