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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

882–883

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ishaq al-Hroub

Titel/Untertitel:

Atlas of Palestinian Rural Heritage. English – Arabic. Catalogue. Ed. by. Th. Staubli. Transl. by Kh. Amayreh. Photographs by P. Bosshard and J.-M. Giossi.

Verlag:

Berlin; AphorismA 2016 (Bethlehem: Diyar Publishers 2015). 412 S. m. 575 Abb. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-86575-775-3.

Rezensent:

Karin Berkemann

»Ishaq al-Hroub (Abu Iyad) is a one-man bonanza for the ethnography of Palestine.« (7) Gleich der erste Satz, mit dem der Theologe und Orientwissenschaftler Thomas Staubli (BIBEL+ORIENT Mu­seum Fribourg) in den von ihm herausgegebenen »Atlas of Pales-tinian Rural Heritage« einführt, setzt das Kopfkino des Lesers in Gang. Man erwartet nun vieles, Interessantes, Spannendes, vielleicht Skurriles. Aber unausgesprochen kommt man auch ins Zweifeln, ob hier »echte« Wissenschaft zu erwarten sei. Zu bunt scheint das Leben des 1941 in Dura geborenen Sammlers Ishaq al-Hroub: Der Vater fertigte Kamelsättel, Kleidung und Netze und gab artis­tische Kunststücke zum Besten. Die Mutter kümmerte sich um das Zubehör und die Ausrichtung von Hochzeiten. So war al-Hroub schon als Kind umgeben von einer reichen Kultur, die er zugleich untergehen sah – mit dem Hereinbrechen der Industrialisierung und dem Aufbruch des Staates Israel.
Als Kind selbst Teil dieser Alltagskultur, wurde ihm zugleich – und zu dieser Zeit nicht selbstverständlich – eine Schulbildung zuteil. Alles Übrige eignete er sich autodidaktisch an und sammelte Zeugnisse dieses untergehenden ländlichen Lebens. Er wurde in der Altstadt von Jerusalem und in Hebron fündig. Dabei hörte er den Verkäufern genau zu, notierte ihre Geschichten und führte mit seiner Violine auf Festivals ebenjene Lieder auf, die im Vergessen begriffen waren. Rückblickend benennt al-Hroub drei Gruppen im Umgang mit dem kulturellen Erbe: eine erste, die alte Dinge freudig durch moderne ersetzt, eine zweite, die ihr Erbe meistbietend verkauft, und eine dritte (und nach seiner Erfahrung verschwindend kleine) Gruppe, die solche Relikte der Vergangenheit zu Hause verwahrt.
Staubli sieht al-Hroubs Sammelleidenschaft in einer rund hundertjährigen Forschungstradition. Als Vorläufer nennt er Palästinakundler wie den Theologen Gustaf Dalman (1855–1941) mit seinem mehrbändigen Werk »Arbeit und Sitte«, Zeitschriften wie die »Revue Biblique«, Einzelstudien von Tawfiq Canaan bis zu Yizhar Hirschfeld oder Kataloge zu verwandten ethnographischen Sammlungen wie der von Widad Kamel Kawar. Dabei hält Staubli unmissverständlich fest, dass al-Hroubs Sammlung einem historisch-kritischen Anspruch nicht gerecht werden könne. Ihr Charme liege vielmehr in ihrer Fülle, sie sei ebenjene »Goldgrube«, die der Sammler und mit ihm der Katalog vor dem Leser eröffne.
Denn letztlich schreibt al-Hroub mit seinem »Atlas« seine Familiengeschichte fort, schaut in die eigene Vergangenheit und noch ein Stück zurück, erweitert den Familien- zum Kulturkreis. Damit kann (und muss vielleicht sogar) die Schilderung einer Beduinenhochzeit gleichberechtigt stehen neben den Gewohnheiten des Rauchens und einem Heilzauber gegen Melancholie. Folgerichtig trifft und begründet Staubli seine Entscheidung, für diese Sammlung eine Bühne zu bereiten, sie mit einleitenden Worten zu rahmen und ansonsten unbeschadet in all ihrem Charme und Reichtum an den Leser weiterzureichen: »The manner in which al-Hroub’s collection is arranged, I did not touch in any way in my function as an editor. It is an ethnographic document by itself.« (11) Und ebenjenes »Dokument« sieht Staubli in einer Reihe mit den Werken von Dalman und Canaan – mit der Besonderheit, dass al-Hroub seine Familien- und Kulturgeschichte aus dem muslimischen Blickwinkel heraus erzählt.
So folgt auf die Einleitung Staublis direkt eine Hinführung durch al-Hroub, womit dieser seine Familien- und Sammelgeschichte umreißt. Nach zwei kurzen Glossaren (Landschaft, Maße) wird der Katalog der Sammlung entfaltet. Durch Überschriften gegliedert, umfasst jeder Abschnitt kurze, hinführende, erklärende und um Zitate angereicherte Texte von al-Hroub. Den Löwenanteil der Abschnitte machen die Fotografien der Sammlungsstücke aus, die teils in Aktion vorgeführt, teils musealisiert vor neutralem Hintergrund gezeigt werden. Die Abschnitte folgen einer lockeren Ordnung: Landwirtschaft (Feldbestellung, Ernte und deren Verarbeitung), Produktion und Lagerung von Nahrungsmitteln (Ba-cken, Kochen, Öle, Nutztiere), Freizeitgestaltung (Genussmittel, Spiele), (Kunst-)Handwerk (vom Schmied bis zum Hausbau), Tierhaltung (Kamel u. a.) und Rites de Passage (Hochzeit, Krankheit, Beerdigung). Den Abschluss bilden verschiedene Register zu den Sammlungsobjekten.
Damit wird der anfängliche Zweifel des Lesers beantwortet: Ja, dieser »Atlas« der Alltagskultur ist Wissenschaft. Er ist Forschung in ihrer vielleicht schönsten Stufe des Sammelns, Ordnens, Beschriftens, Neu-Ordnens und Wiederentdeckens. Man könnte sich aus der Sicht des nachschlagenden Wissenschaftlers noch vieles wünschen, z. B. Bildunterschriften, die verraten, wann und wo das gezeigte Stück und die Aufnahme davon entstanden. Die meis­ten dieser Informationen lassen sich in den verschiedenen anhängenden Registern finden. Der große Vorteil dabei ist, dass man beim blätternden Suchen immer wieder auf neue unerwartete Fundstücke stößt. Mit diesem Buch, mit dieser Sammlung ist man so schnell nicht fertig. Ganz so, wie es sich für eine gute Goldgrube gehört.