Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2017

Spalte:

878–880

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Neugebauer, Vivien

Titel/Untertitel:

Europa im Islam – Islam in Europa. Islamische Konzepte zur Vereinbarkeit von religiöser und bürgerlicher Zugehörigkeit.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2016. 479 S. m. 2 Abb. = Reihe für Osnabrücker Islamstudien, 23. Geb. EUR 87,95. ISBN 978-3-631-67385-0.

Rezensent:

André Ritter

In ihrer Osnabrücker Dissertation vergleicht Vivien Neugebauer die Antworten und Ansätze von drei zeitgenössischen islamischen Europa-Konzepten – namentlich Tariq Ramadan und Mustafa Ce­ri auf der einen und kontrastierend Navid Kermani auf der anderen Seite. Durch den Vergleich soll zugleich ein innerislamisches Spannungsfeld deutlich werden, welches nicht nur die Vielfalt islamischer Wege abbildet, sondern auch die kategoriale Unterscheidung von »islamisch« und »nichtislamisch« in Frage stellt. Nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle Fragen der Partizipation, der Religionsfreiheit und des Miteinanders in einer wertepluralen Gesellschaft sind die hier ausgewählten Ansätze maßgebliche Stimmen im öffentlichen Diskurs, sofern es nicht mehr nur darum geht, ob der Islam in Europa beheimatet werden kann – sondern wie.
Unstrittig dürfte sein, dass es sich dabei um eine komplexe Fragestellung handelt, die wiederum auf die Notwendigkeit einer europäischen bzw. europabezogenen Islamforschung verweist. Ausgangspunkt ist zunächst die Einsicht, dass die Deutung des Islams, der islamischen wie im Übrigen auch der bürgerlichen Zugehörigkeit als Muslim durch die Diskursmacht bestimmt ist, die eben nicht die Muslime selbst ausmachen (vgl. 120 f.). Demzufolge versteht sich die Arbeit ausdrücklich »als ein Hinweis zur Erweiterung des theologischen Diskurses, welcher sich der Beheimatung der islamischen Religion annimmt« (121) mit dem Ziel, »die Konzepte als eigenständige Beiträge zur Beheimatung des Is­lams in Europa – in die europäische Religionskultur – wahrzunehmen« (128). In methodischer Hinsicht folgt N. »einer differenzhermeneutischen Konzeption der Theologie der Religionen« (130), um die ausgewählten islamischen Europa-Konzepte aus einer christ-lichen bzw. protestantischen Binnenperspektive zu untersuchen. Dem korrespondiert auf der anderen Seite wiederum ein theologisches Selbstverständnis, demzufolge der eigene Glaube aus einer Außenperspektive reflektiert wird, um »sich in der eigenen Tradition für eine Betrachtung anderer religiöser Traditionen zu öffnen« (ebd.). Mit anderen Worten: »Es ist das Ziel, mit Hilfe der Konzepte einen Ausschnitt aus der gegenwärtigen Begegnung der islamischen und christlichen Religion in Europa darzustellen, die sich in der Situation des Verhandlungsprozesses der Beheimatung des Islams ereignet.« (132)
Die Auswahl der drei genannten muslimischen Autoren ist 1. davon bestimmt, dass es sich bei diesen Beiträgen und Konzepten jeweils darum handelt, »dass Muslime ihre religiöse Zugehörigkeit in Europa bewahren und sie sich gleichzeitig als europäische Bürger zugehörig fühlen können«, und 2. davon, dass es sich dabei um »Positionen aus unterschiedlichen religiösen und nationalen Kontexten« handelt, »wobei für die Reflexion die gewählten Zugänge zur Bestimmung der Vereinbarkeit ausschlaggebend waren« (135). Bereits der erste kritische Durchgang – bezogen auf das Konzept von Ramadan zur Anwendung des islamischen Rechts in Europa (170 f. u. ö.) – macht deutlich, dass es sich um eine brisante Verhältnisbestimmung handelt. »Das Konzept nähert die religiöse Rechtsprechung an ein vernunftgeleitetes Recht an, ohne es aber von seinem religiösen Anspruch abzulösen […] In ihr wird die islamische Zugehörigkeit als Deutungshoheit bewahrt, wenngleich sie sich doch fügen muss, wenn sie den westeuropäischen Rahmen überschreitet.« (180) Bemerkenswert sei aber auch, dass »im Gegensatz zur starken Präsenz und primären Rolle der islamischen Zugehörigkeit […] Ramadans Beitrag zur bürgerlichen Zugehörigkeit in Europa vergleichsweise wenig hervor[tritt]« (184).
Vor diesem Hintergrund sei das zweite (bereits in frühislamischer Zeit bekannte) Modell des Gesellschaftsvertrages weiterführend, das Mustafa Ceri aus bosnischer Perspektive favorisiert. »Europa als Haus des Gesellschaftsvertrages« intendiert eine europäische Wertegemeinschaft von und mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Nationen, Sprachen, Kulturen und Bräuchen (vgl. 188). Von zentraler Bedeutung ist für Ceri dabei, »dass Europa nicht als christlicher Kontinent betrachtet wird«, sondern »in der Beschreibung Europas wertschätzend aufzunehmen, dass die islamische Kultur einen Beitrag an dem Bild Europas hat« (189). »Die Herausforderung für die europäischen Muslime liegt […] darin, die Normen ihrer Religionsgemeinschaft mit den Normen der europäischen Gesellschaft so zusammenzubringen, dass sie ihnen gerecht werden und nicht unter den jeweiligen Sanktionen leiden müssen« (192). Deshalb folgert und fordert Ceric eine institutionalisierte Präsenz des Islams bzw. eine »institutionalisierte Religionsgemeinschaft« der Muslime in Europa (vgl. 201 u. ö.) und spricht sich für »Europa als Ort einer neuen islamischen Gemeinschaft« (205) aus, die über konfessionelle Abspaltungen hinweg im Sinne eines gemeinsamen Imamats zu verstehen sei (vgl. 203 u. ö.): »Durch das institutionalisierte Imamat würde Europa sich zu einem Zentrum des Islams herausbilden, welches Frieden und Sicherheit in der Welt verkünden und weltweit Orientierung für Muslime bieten würde« (206). Doch was das konkret bedeutet, bleibt am Ende vage (vgl. 210 f.).
Der Vergleich der beiden Konzeptionen (mit jeweils sunnitischem Hintergrund) zeige auf, dass trotz bestehender Unterschiede ihre Gemeinsamkeiten überwiegen. »Obgleich Europa sich […] als kompatibler Lebensort für die Muslime erweist, weil er offen für den Islam und dessen Entfaltung ist, findet sich in beiden Konzepten die Auffassung von einer noch notwendigen Anpassung des Islams.« (284) Doch erst der kontrastierende Vergleich mit dem ausgewählten dritten Modell von Navid Kermani (mit schiitischem Hintergrund) könne verdeutlichen helfen, dass »seine islamwissenschaftlich geprägte Perspektive einen in Bezug auf die Frage nach der Vereinbarkeit von islamischer und bürgerlicher Zugehörigkeit abweichenden Aspekt« darstellt (286). Setzt er doch bei der europäischen Idee (Freiheits- und Friedensprojekt) als Ausgangspunkt und Maßstab selbst ein: »Für Kermani ist die islamische Zugehörigkeit in den Rahmen der europäischen Zugehörigkeit einzufügen.« (302)
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, »dass beide Zu­gehörigkeiten der individuellen Interpretation und Entscheidung für oder gegen eine gleichzeitige Zugehörigkeit unterliegen, welche sowohl bewusst als auch unbewusst verlaufen« (309). Einerseits verstehe Kermani also »die Willensgemeinschaft Europa durch ihre säkulare Grundlage als einen Ort der Vielfalt, an dem auch die Muslime sich beheimaten können« (315). Und andererseits ermögliche sein »Konzept des Nicht-Konzepts […] den Muslimen die indivi-duelle Aushandlung ihrer Zugehörigkeiten« (318). Abschließend wird – eingedenk aller methodischen Schwierigkeiten einer solchen Gegenüberstellung (vgl. 321) – ein konzeptioneller Vergleich unternommen:
»Während die gesellschaftliche Partizipation ein zentraler Aspekt in Ramadans und Ceris Konzepten ist, da in dieser Form die islamische Zugehörigkeit bezeugt und die bürgerliche Zugehörigkeit bekräftigt werden soll, formuliert Kermanis Konzept keine ähnlichen Grundsätze für eine ›gute‹ islamische oder bürgerliche Zugehörigkeit. Im Unterschied zu Ramadan und Ceri stellt Kermani das Leben der Muslime in Europa nicht in einen islamischen Rahmen […] Da sein Konzept allein die Wahrung der bürgerlichen Zugehörigkeit als maßgeblichen Rahmen vorgibt, aber nicht die Form der islamischen Zugehörigkeit, ist für den europäischen Bürger jedes Islamverständnis und jede Zugehörigkeit erlaubt, solange es nicht die europäischen Rahmenbedingungen verletzt.« (329)
Wie auch immer an der einen oder anderen Stelle jeweils akzentuiert wird, für die Muslime in Europa geht es um den Erhalt ihrer verbindenden wie verbindlichen Gemeinschaft, des religiösen Selbst und des Andersseins und nicht zuletzt der Selbstbestimmung gegenüber der westeuropäischen Mehrheitsgesellschaft.
Ob und wie das tatsächlich gelingen wird, bleibt allerdings abzuwarten.