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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

874–876

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Koloska, Hannelies

Titel/Untertitel:

Offenbarung, Ästhetik und Koranexegese. Zwei Studien zu Sure 18 (al-Kahf).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. XIV, 289 S. m. 8 Tab. = Diskurse der Arabistik, 20. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-447-10274-2.

Rezensent:

Berenike Metzler

Der Koranwissenschaftlerin Hannelies Koloska sind in ihrer Arbeit zwei Dinge in herausragender Weise gelungen: sowohl die auf den ersten Blick literarisch inkohärente Sure 18 als auch in gewissem Sinne den einseitig als Fundamentalisten eingeordneten ägyptischen Exegeten Saiyid Quṭb (1906–1966) aus ihrem Schattendasein befreit zu haben. Die Sure 18 (al-Kahf) zeichnet sich durch eine Vielfalt an rätselhaften Passagen aus wie etwa Anspielungen auf die Siebenschläferlegende, eine rätselhafte Erzählung über die Reise Moses mit einem Gottesdiener oder auch die Gestalt des oftmals mit Alexander dem Großen gleichgesetzten Ḏū l-Qarnain.
Ganz in der Tradition Angelika Neuwirths und des corpus coranicum der BBAW, bei dem K. seit 2011 mitarbeitet, verfolgt K. dabei im ersten Teil ihres Werks einen chronologisch-literaturwissenschaftlichen Ansatz. Sie ergänzt diesen im zweiten Teil jedoch mit der Behandlung der Sure 18 in den Schriften des Exegeten Saiyid Quṭb und setzt damit in die Praxis um, was immer mehr gefordert, aber bisher selten so intensiv betrieben wurde: eine stärkere Be­rücksichtigung moderner muslimischer Forschung in den Untersuchungen westlicher Koranwissenschaft.
Die Sure 18 (al-Kahf) wird im ersten Teil des Buchs abschnittsweise in einer zweisprachigen arabisch-deutschen Übersetzung präsentiert und nach literaturwissenschaftlicher Methodik unter verschiedenen Aspekten analysiert. Dazu gehört eine Erläuterung seltener Wörter und Ausdrücke des Abschnitts mithilfe arabischer Lexika und Kommentarliteratur sowie koranwissenschaftlicher Sekundärliteratur. Ausführungen K.s zu Inhalt und Aufbau des entsprechenden Abschnitts inklusive anschaulicher schematischer Darstellungen folgt eine inhaltliche Analyse, die mittels innerkoranischer Bezüge und der Miteinbeziehung koranwissenschaftlicher Forschung versucht, der Bedeutung des Textabschnitts auf den Grund zu kommen. Dabei beinhaltet ihre detaillierte und scharfsinnige Analyse auch Ausflüge beispielsweise in die Gleichnisforschung (siehe 2.11) oder die Philosophie des Fragens bei Gadamer (2.15), was die Arbeit auch für Interessierte außerhalb der Koranwissenschaft im engeren Sinne lesenswert macht.
Dabei bleibt K. ganz der Schule Angelika Neuwirths verhaftet, in einer Sure nicht bei den einzelnen Versatzstücken stehenzubleiben, sondern die gesamte Surenkomposition in den Blick zu nehmen, wie K. in einem den Einzelanalysen vorangehenden Kapitel glaubhaft vermittelt. Das Analyseschema wird immer wieder von thematischen Kapiteln durchbrochen, die bestrebt sind, den Koran in seinem intertextuellen und historischen Beziehungsgeflecht wahrzunehmen, indem etwa antike und altkirchliche Texte wie der Alexanderroman oder die Homilie zu den Siebenschläfern von Jakob von Sarug (451–521) diskutiert werden; Letztere ist sogar auf den letzten Seiten der Arbeit in deutscher Übersetzung abgedruckt. K. räumt selbst ein, dass sie die mündliche Tradition nicht miteinbezogen hat, was jedoch aufgrund der Fülle des Materials, das K. zusammengetragen hat, nicht weiter ins Gewicht fällt.
Den zweiten Teil der Arbeit widmet K. der Behandlung der Sure al-Kahf durch Saiyid Quṭb, eines ägyptischen Koranexegeten, der meist nur in Verbindung mit den islamistischen Bewegungen des 20. Jh.s gebracht wird. Seine Schriften über die Literarizität und Ästhetik des Koran – und diese Herangehensweise teilt mit ihm ja auch die literaturwissenschaftliche Erforschung des Koran, wenn auch mittels anderer Methodik – haben deshalb noch kaum Beachtung gefunden. Quṭb verfolgt dabei weniger eine einheitliche Methodik, als dass er vielmehr der Breite der muslimischen Leser einen Zugang zum Koran ermöglichen will, der die Ästhetik des Koran in den Blick nimmt und gleichzeitig praxisorientiert ist. Für Quṭb steht dabei weniger eine analytische Erklärung als vielmehr die direkte Wirkung der Bildsprache des Koran auf den Leser bzw. Gläubigen im Vordergrund.
Nach einleitenden Kapiteln zu Quṭb und seinem Wirken fasst K. die Hauptargumente seiner Analyse der Sure 18 zusammen und bietet im Anschluss eine flüssige Übersetzung. Die Schlussbemerkung vergleicht schließlich die chronologisch-literaturwissenschaftliche Methodik mit dem Ansatz Quṭbs unter verschiedenen Aspekten, die sich freilich oft grundlegend unterscheiden, stellt jedoch auch heraus, dass beide die Wechselwirkung zwischen dem Sinnpotential des Textes und der Erwartungshaltung an ihn im Fokus haben und dabei den direkten Textzugang als unabdingbare Notwendigkeit voraussetzen. K. hält schließlich fest, dass die westliche literaturwissenschaftliche Koranforschung auch nur auf der Suche nach einem möglichen historischen Sinn sei, und betrachtet beide Ansätze als komplementär, ja sogar als wechselseitiges Korrektiv. Tatsächlich machen sich viele westliche Koranforscher zum Ziel, die Komposition des Koran in allen Einzelheiten rational erklären zu wollen und beispielsweise die Kohärenz einer Sure nahezu zu erzwingen, während es möglicherweise guttäte, an einigen Stellen die Ratio zurücktreten zu lassen und, wie Qu ṭb es immer wieder betont, einfach die koranischen Bilder in ihrer Ästhetik gelten zu lassen.
K. tappt an einigen Stellen selbst in diese Falle, indem sie etwa die Einleitung der Sure al-Kahf für antizipatorisch für den weiteren Verlauf der Sure ansieht (32), während die Motive, die sie nennt, allesamt mittelmekkanischen Charakters sind und somit – zugespitzt formuliert – zu Beginn jeder mittelmekkanischen Sure stehen könnten. An anderen Stellen räumt sie jedoch auch ein, dass manches dunkel bleiben muss, die Ersthörerschaft möglicherweise mehr wusste (siehe 129), und liest Leerstellen als Auslegungsspielräume.
Die vielen Bezüge zu Grundfragen exegetischer und geisteswissenschaftlicher Forschung, die gelungene Einleitung zum Wesen literatur- und kulturwissenschaftlicher Koranforschung, die zweisprachige Übersetzung, die übersichtliche Gliederung sowie das ausführliche Register machen das Buch schließlich zu einer wertvollen Lektüre eines Publikums, das hoffentlich weit über Arabis­ten und Koranwissenschaftler hinausgeht.