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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

871–874

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Boulos, Samir

Titel/Untertitel:

European Evangelicals in Egypt (1900–1956). Cultural Entanglements and Missionary Spaces.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. XIII, 351 S. m. Abb. = Studies in Christian Mission, 48. Geb. EUR 132,00. ISBN 978-90-04-31500-6.

Rezensent:

Friedemann Walldorf

Die Studie von Samir Boulos geht zurück auf seine islamwissenschaftliche Dissertation am Orient-Asien-Institut der Universität Zürich (2012). Ihr Ziel ist es, die Beziehungen zwischen ägyptischen und europäischen Akteuren in der Bildungs- und Gesundheitsarbeit evangelischer Missionen in Ägypten als Räume interkulturellen Lernens zu beschreiben. Dabei sollen vor allem »indigenous voices« (16) zu Wort kommen – nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der These Paul Sedras, die evangelische Mission habe zu einer »colonisation of the mind« geführt (85). Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der ersten Hälfte des 20. Jh.s, der Zeit der nationalen Umbrüche von der britischen Kolonialherrschaft zur unabhängigen Republik 1956. Dass der thematische Fokus einer islamwissenschaftlichen Arbeit auf der evangelischen Mission liegt, mag überraschen, zeigt jedoch die Relevanz missionsgeschichtlichen Archivmaterials für die interdisziplinäre Forschung. Spezifischer Forschungsgegenstand sind zwei neupietistische Glaubensmissionen: die 1900 gegründete deutsch-schweizerische Sudan-Pionier-Mission (SPM) und die seit 1898 in Ägypten tätige britische Egypt General Mission sowie (etwas aus der Reihe fallend) das English Mission College, hervorgegangen aus der anglikanischen Judenmission. Diese Auswahl wird nicht näher begründet, immerhin hätte auch die anglikanische Church Missionary Society (CMS) den Kategorien »European« und »evangelical« weithin entsprochen. Offensichtlich hat jedoch die größere Distanz der neupietistischen »faith missions« (67), vor allem der SPM, zur britischen Kolonialherrschaft hier eine Rolle gespielt, während die CMS eher als Aspekt britischer Kolonialgeschichte interpretiert wird. Die Arbeit folgt einem mikrohistorischen Ansatz, der die missionarischen Institutionen durch das Brennglas interpersonaler Beziehungen betrachtet: »the experiences, feelings, actions and concepts of Egyptians as well as foreign missionaries.« (4) Zentral sind deswegen oral history-Interviews mit früheren koptischen, evangelischen, muslimischen Missionsschülern und Mitarbeitern sowie deutschen, schweizerischen und britischen Missionaren. Dem Ansatz der Grounded Theory folgend entwickelt B. seine Überlegungen im engen Anschluss an den Quellenkorpus aus Interviews, Archivmaterial und gedruckten Primärquellen.
Die Thematik wird in fünf Kapiteln entfaltet. Kapitel 1 (Historical Context: Egypt and the Christian Mission) erläutert die gesellschaftspolitischen und missionsgeschichtlichen Hintergründe. Es wird deutlich, dass die Nationalisierung des ägyptischen Schul- und Gesundheitswesens, aber auch anti-missionarische Agitationen von islamischer Seite in den 1930er Jahren die Rolle missionarischer Institutionen zunehmend in Frage stellten. 1948 wurde christlicher Religionsunterricht für muslimische Kinder verboten, 1956 wurden christliche Schulen verpflichtet, Muslimen Islamunterricht zu erteilen. Kapitel 2 (Missionaries’ Self-Understanding) beschreibt das Frömmigkeitsverständnis der Glaubensmissionen und gibt einen Überblick der Geschichte der SPM und der EGM. B. zeigt auf, dass das von der Erweckungsbewegung geprägte Selbstverständnis der Glaubensmissionen (Bekehrung, Weltkritik, Reich Gottes) auch eine moralische Distanz zum europäischen Kolonialismus bewirkte. Kapitel 3 (Missionary Educational Work) konzentriert sich auf die Bildungsarbeit. Analysiert werden das anglikanische English Mission College, das 1924 in Kairo entstand und jährlich bis zu 900 Schüler aller religiösen Hintergründe unterrichtete, sowie die Bethel Girls’ School der Egypt General Mission in Suez. Ehemalige Schüler erinnern ihre Schulen als »sacred space« (159), geschützte Orte mit festen Regeln und guten Freundschaften. Obwohl die »evangelising mission« (139) den muslimischen Schülern bewusst war, habe es keinerlei Zwang gegeben. B. interpretiert die Schulen als »ordered space« (157), der Schüler und Lehrer in einem gemeinsamen Raum interkulturellen Lernens verband. Auch wenn Ordnung, Strenge und eurozentrische Haltungen die Schulen prägten, habe dies nicht zu einer Kolonisierung des Geistes (Sedra) geführt. Die Schüler und ihre Familien waren »able to ac-tively select and shape that which might suit their lives« (277). Dies zeigt auch das Beispiel des Missionskrankenhauses der SPM in Assuan, dem sich Kapitel 4 (Health and Christian Mission) widmet. Das 1913 von dem Schweizer Arzt Willi Fröhlich begründete Hospital wird von B. als »culturally entangled space« (177) gedeutet, in dem aus ägyptischen und europäischen Erfahrungen eine gemeinsame Erfahrung entstand. Obwohl das Krankenhaus als al-Jarmaniya (das Deutsche) bekannt war, »[it] cannot be regarded as a German organisation« (177). Als Grund sieht B. die Bereitschaft, missionarische Strukturen und Ziele aufgrund aufmerksamer Fremd­wahrnehmung anzupassen. Obwohl die SPM auffallend vom respektvollen Umgang mit ägyptischen Patienten und Mitarbeitern geprägt war, sei auch sie erst aufgrund des politischen Drucks bereit gewesen, Leitungsverantwortung mit Ägyptern zu teilen. Diese Fähigkeit zum »organisational learning« (280) habe die Fortführung der Arbeit nach 1956 ermöglicht. Als stärksten Faktor interkulturellen Lernens in der SPM beschreibt B. den missionstheologisch begründeten »Geist des Dienens« (207), der liebevolle interpersonale Beziehungen ermöglicht und Hierarchien relativiert habe. Kapitel 5 (Traces of Missionary Work) und eine Conclusion reflektieren die Ergebnisse zusammenfassend auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene. B. beobachtet ein paradoxes Verhältnis zwischen der gegenseitigen Dämonisierung in den religiösen Diskursen auf gesellschaftlicher Ebene (anti-missionarische Agitationen, islamkritische missionarische Diskurse) und den ausgesprochen guten interreligiösen Beziehungen auf persönlicher und institutioneller Ebene. Ergänzt wird der Text durch neun historische Fotographien, eine Bibliographie und einen Index.
Mit European Evangelicals in Egypt legt der Historiker Boulos eine methodisch reflektierte und überzeugend argumentierende Studie vor. Die Hauptthese, die Bedeutung missionarischer Institutionen als Räume reziproken interkulturellen Lernens, wird überzeugend begründet – wobei die Datenbasis begrenzt ist und zur SPM weder ehemalige Patienten noch muslimische Angestellte befragt werden konnten. Eine Stärke des Buchs liegt in der differenzierten Interpretation der Zeitzeugen-Interviews. Hier gelingt es B., wichtige Feinheiten und Subtexte herauszuarbeiten. Auffallend ist auch die detaillierte und ausführliche Analyse von Sau-berkeits- und Hygienekonzepten der Missionare und ihrer in-terkulturellen und interreligiösen Bezüge. Deutlich knapper fällt die Auseinandersetzung mit der missionarischen Kritik der Ge­schlechterrollen aus (»in Moslem homes the man is on top«, 238). Hier beschränkt sich B. darauf, dies als Teil einer orientalistisch verengten Islamkritik zu interpretieren, die in den Schriften ägyptischer Christen später nicht mehr vorkomme. B.’ sehr lesenswerte Studie leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Missionsgeschichte und Geschichte Ägyptens, sie unterstreicht auch den unbedingten Vorrang mitmenschlicher Achtung in der interreligiösen Kommunikation.