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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

827–830

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz, Ralph, u. Thomas Schlag[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2014. 537 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-7887-2839-7.

Rezensent:

Ursula Roth

Dem von Ralph Kunz und Thomas Schlag 2014 herausgegebenen Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung ist ein hoher Anspruch eingeschrieben. Die beiden Leiter des 2010 gegründeten Zürcher Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) zielen mit dem Band darauf ab, »angesichts einer sich dynamisch verän­dernden Kirchen- und Gemeindewirklichkeit zentrale Problemstellungen protestan­tischer Ekklesiologie zu identifizieren, gegenwärtige thematische Forschungsein­sichten zu präsentieren und auf diesem Hintergrund Entwicklungsperspektiven für verschiedene Handlungsfelder von Kirche und Gemeinde aufzuzeigen« (9). Es geht ihnen darum, eine doppelte Dynamik zu erkunden: Das Handbuch soll gegenwärtige Entwicklungsprozesse abbilden, aber auch Entwicklungsperspektiven künftiger Praxis skizzieren. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf jene Leitbilder, die den unterschiedlichen Vorstellungen von Entwicklung zugrunde liegen. Die Aufgabe, diese verschiedenen »Entwicklungs-Semantiken« (9) herauszuarbeiten und vor dem Hintergrund des gemeinde- und kirchentheoretischen Diskurses zu reflektieren, wird den einzelnen Beiträgen programmatisch als Grundaufgabe vorgegeben. Gerade diese Herangehensweise ist eine der vielversprechenden Pointen des Bandes.
Mit Hilfe dieses Blickwinkels ist das Handbuch auf das Ziel ausgerichtet, sowohl die weit ausdifferenzierten Bereiche kirchlicher und gemeindlicher Praxis als auch die unterschiedlichen Reflexionsperspektiven des unübersichtlichen und ausgefransten kirchen- und gemeindetheoretischen Diskurses zur Geltung zu bringen. Dieser Anspruch schlägt sich zum einen in der von beiden Herausgebern verantworteten Einführung nieder, die programmatisch weit ausholt und über die terminologischen Untiefen des Kirchen- und Gemeindebegriffs hinaus unterschiedliche Differenzen und Spannungsfelder benennt, die den theoretischen Horizont abstecken. Die thematische Weite des Handbuchs zeigt sich zum anderen im Gesamtaufriss. Neben der Einleitung (»1. Diskursland schaften gegenwärtiger Kirchen- und Gemeindeentwicklung«) enthält das Werk 56 Beiträge, die in acht Kapitel (nicht sieben, wie die Herausgeber in der Einleitung wiederholt behaupten [10]) geordnet sind. Die acht Kapitel (»2. Entwicklungslinien«/»3. Erhebungen«/»4. Einordnungen«/»5. Entfaltungsbereiche«/»6. Erschei-nungsformen«/»7. Einsatzbereiche«/»8. Entgrenzungen«/ »9. Er­möglichungen«) bestehen wiederum aus je sieben Beiträgen, die – in der Regel – jeweils einheitlich in »Informationen«, »Interpretationen« und »Innovationen« untergliedert sind. Es ist tatsächlich beeindruckend, welch breites Tableau gemeinde- und kirchentheoretischer Aspekte sich mit diesem gleichmäßig angeordneten »Großen Acht mal Sieben« der Kirchen- und Gemeindeentwicklung aufspannt. Den meisten Beiträgen gelingt es eindrücklich, Theoriehorizonte und konkrete Anschauungen aus der Praxis erkenntnisreich aufeinander zu beziehen.
Der stilistische Kniff, die acht Kapitel jeweils mit einem mit »E« anlautenden Begriff zu betiteln, wird nicht jeden überzeugen. Ästhetisch nicht ohne Reiz, mangelt es den acht »E-Wörtern« an einer prägnanten Differenzierungsleistung. Was die je sieben Beiträge der einzelnen Kapitel jeweils untereinander verbindet, er­schließt sich aus den knappen und etwas verspielt und gekünstelt wirkenden Kapitelüberschriften nicht ohne Weiteres. Besonders zwischen den Kapiteln 5, 6 und 7 fällt eine Grenzziehung schwer, manche Zuordnung scheint eher zufällig oder der Symmetrie der Gliederung geschuldet, manche inhaltliche Doppelungen und Überschneidungen lassen sich nur mit Mühe erklären.
Die von den Herausgebern gestellte Aufgabe, der semantischen Offenheit der Begriffe »Gemeinde«/»Kirche«/»Entwicklung« gezielt mit einer differenzierten und differenzierenden terminologischen Fundierung zu begegnen, erfüllen eine Reihe von Autorinnen und Autoren in beeindruckender Klarheit. Das Handbuch enthält zahlreiche Beiträge, denen es in überzeugender Weise gelingt, die terminologische Vielstimmigkeit des gemeinde- und kirchentheoretischen und -theologischen Diskurses gewinnbringend zur Reflexion kirchlicher Praxis heranzuziehen. Sowohl die Entwicklung des entsprechenden Praxisfeldes als auch die Entwicklung der entsprechenden Reflexionsmuster zeigen sich im tastenden Versuch der Sichtung, Einordnung und Klärung.
Bezüglich des vielschichtigen Gemeindebegriffs wird das etwa eindrücklich an den Beiträgen von B. Schröder und St. Schaede deutlich. Sehr umsichtig und behutsam erörtern beide Autoren, inwiefern es sinnvoll sein könnte, auf die Praxisfelder »Schule« und »Akademie« den Gemeindebegriff anzuwenden. Aber auch Artikeln wie etwa jenen von P. Bubmann (musikalische Projekte) und M. Freitag (Jugendkirchen) liegt eine solch reflektierte Terminologie zugrunde. Der Gemeindebegriff wird hier zum Suchbegriff, zu einem »heuristischen Begriff« (378), der es ermöglicht, Praxiszusammenhänge zu vergleichen, einzuordnen und zu deuten. Andere Beiträge suchen die konzeptionell vorgegebene Aufgabe zu lösen, indem sie sich in terminologischer Deutlichkeit üben und auf präzisere Begriffe zurückgreifen. Statt von »Gemeinde« ist dann bewusst die Rede von »Kirchengemeinde«, »Ortsgemeinde«, »fluidem Gemeindegefüge«, »parochialer« und »temporaler« Gemeinde, Gemeinde »auf Zeit«. Auch mit Hilfe gezielt gesetzter Anführungsstriche versuchen einige Autoren, eine einseitige und eindimensionale Verwendung des Gemeindebegriffs zu vermeiden (vgl. vor allem bei Chr. Sigrist über »Gemeinde im sozialen Nahraum«).
Doch es gibt auch solche Beiträge, die hinter dem Anspruch differenzierter Begrifflichkeit zurückbleiben. Das zeigt sich etwa bei dem quer durch das Handbuch hindurch verwendeten stereotypen Begriffspaar »Kirche(n) und Gemeinde(n)«, bei dem häufig offen bleibt, wovon genau die Rede ist. Im Bestreben, absichtlich allgemein und umfassend zu formulieren, bleiben die Texte hier stellenweise inhaltlich vage und undeutlich. Frappierend ist ebenso, wie häufig der Gemeindebegriff Verwendung findet und dabei unausgesprochen allein die parochiale Kirchengemeinde im Blick ist. Dann zeigt sich bisweilen genau jene folgenschwere »Gleichsetzung von ›Gemeinde‹ mit ›Ortsgemeinde‹«, die U. Pohl-Patalong in ihrem Beitrag »Kirche bei neuen Gelegenheiten« mit Blick auf die gegenwärtige gemeinde- und kirchentheoretische Debatte problematisiert (205).
Man kann in diesem Befund ein Zeichen für die Vielfalt und Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen, uneinheitlich und kontrovers geführten gemeinde- und kirchentheoretischen Diskurses sehen. Man könnte aber auch kritisch fragen, ob es nicht Aufgabe der Herausgeber gewesen wäre, bei den Autorinnen und Autoren hier noch einmal nachzuhaken. Dem Anspruch des Buches werden einige Beiträge so jedenfalls nicht gerecht.
Das Handbuch besticht in seiner (länder-)grenzüberschrei-tenden Perspektive, mit der auch die innerprotestantische Vielfalt lutherischer und reformierter Traditionen sichtbar wird. Die Be­rücksichtigung des deutschen und schweizerischen Kontextes kirchlicher Praxis ist hier erhellend und informativ. Auch das Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen (151 ff.) wie auch zum »nichtkirchlichen Christentum« (52) kommt in den Blick.
Umso auffälliger ist, dass der interkonfessionelle (oder gar spezifisch ökumenische) Aspekt kirchlicher Praxis in den Beiträgen des Handbuchs keine Rolle spielt. Das irritiert. Denn auch wenn sich der Fokus des Handbuchs gezielt auf die Praxis der evangelischen Kirche(n) richtet, lässt sich die Frage der konfessionellen Vielfalt kirchentheoretisch in dieser Weise nicht ausblenden. Das gilt sowohl für die dogmatische Frage nach dem Verständnis von Einheit und Vielfalt der christlichen Kirchen, das gilt aber gerade auch für die Reflexion der kirchlichen Praxis selbst, die sich – in welchen Formen von Gemeinde auch immer – im Kontext konfessioneller Nachbarschaft, Konkurrenz oder Kooperation vollzieht und sich dabei in der Regel nicht nur der ökonomischen Hoffnung auf Synergieeffekte verdankt.
Aspekte der römisch-katholischen Tradition werden nur am Rande erwähnt, teils als Verweis auf historische Kontexte (z. B. Reformation [44 ff.], ökumenische Bewegung [94.336 ff.]), teils als veranschaulichendes Beispiel für spezifische kirchliche bzw. theologische Konstellationen (theologischer Zusammenhang Liturgie/ Ekklesiologie [236 f.], Gemeindeentwicklung in der französischen Erzdiözese Poitou-Charente [323.494], EKD-Debatte über »Ökumene der Profile«/»Ökumene der Gaben« als Beispiel für innerprotes­tantische Profilierungsproblematik [311 ff.], Verweis auf das rö­misch-katholische Modell eines interreligiösen Inklusivismus [153 f.]). Dass Aspekte der Ökumene bzw. der Dekonfessionalisierung bereits längst in die vielfältigen Entwicklungen kirchlicher Praxis eingelagert sind, kommt nur an wenigen Stellen zum Ausdruck (z. B. Dekonfessionalisierung des Religionsunterrichts [358], ökumenisches Netzwerk Jugendkirchen [381], konfessionell koopera-t ive Gemeindeprojekte [430], ökumenische Impulse spiritueller Praxisformen [462]). Die Frage nach entsprechenden ge­meinde- und kirchentheoretischen Konsequenzen kommt dabei nur an­satzweise in den Blick.
Der Mehrwert solch umfassender Handbücher liegt darin, sie nicht nur als Ansammlung thematisch verwandter Einzelbeiträge zur Kenntnis zu nehmen. Es lohnt sich, den vielfältigen Verbindungslinien und Querbezügen nachzugehen, die bei der Lektüre sichtbar werden. Register können hier Hilfestellung leisten, indem sie solche Querbezüge herausstreichen und zur vergleichenden Lektüre, zum Hin- und Her-, Vor- und Zurückblättern anregen. Dass das vorliegende Handbuch nur über ein eher rudimentäres Personenregister, aber über keinerlei Sachregister verfügt, ist daher ausgesprochen bedauerlich.
Insgesamt ist das Handbuch aufgrund seines thematisch weiten Spektrums äußerst informativ, lehrreich, anregend und lesenswert. Das gilt auch oder vielleicht gerade in Anbetracht der ge­nannten Schwächen.