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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1214–1217

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fechter, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Familie in der Nachexilszeit. Untersuchungen zur Bedeutung der Verwandtschaft in ausgewählten Texten des Alten Testaments.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. IX, 377 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 264. Lw. DM 192,-. ISBN 3-11-016205-9.

Rezensent:

Winfried Thiel

Die Arbeit, eine Erlanger Habil.-Schrift von 1997, gewinnt ihren Ansatz bei der nach Meinung des Vf.s fragwürdigen lite-rarhistorischen Einordnung von einigen für das Thema relevanten Texten. Er bezweifelt nämlich, daß Jos 7 und Lev 18* Texte aus der Frühzeit Israels darstellen. Wohin sich die Untersuchung bewegt, zeigt ihr Titel deutlich genug. Sie ist somit ein weiteres Zeugnis für die gegenwärtige Forschungssituation, in der Frühdatierungen als suspekt gelten.

Der Einleitungsteil, der Methodologie und Forschungsgeschichte erörtert, erbringt einige wichtige Gesichtspunkte, die sich im Fortgang der Arbeit bewähren müssen. So habe L. Rost schon 1938 richtig gesehen, daß die Sippe nach dem Exil - wohl wegen der Urbanisierung und der Entstehung von Großgrundbesitz - ihre ursprüngliche Bedeutung verloren habe. Es müsse auch daran festgehalten werden, daß "Familie ... als eine Funktion der ,Verwandtschaft’ zu fassen (sei), welche immer als das entscheidende Grundmodell anzusehen ist, in welches die übrigen Institutionen des Alltags einzuzeichnen sind. Ehe muß als Funktion der Familie beschrieben werden, nicht umgekehrt" (20). Die Arbeit stellt sich die Aufgabe, die unabdinglichen Querverbindungen zur Ethnologie und Soziologie zu ziehen, will aber "ein exegetisch begründeter sozialgeschichtlicher Beitrag sein, durch welchen deutlich wird, wie veränderte Bedingungen der Wirklichkeit sich auswirkten auf gesellschaftliche Strukturen, wie sich das Wertesystem veränderte und welche Entwicklungen damit angebahnt wurden" (33).

Unter dem Titel "Verwandtschaft und Gesellschaft" analysiert der Vf. Jos 7 und 1Sam 10,17-25. Jos 7 habe niemals, auch nicht in der Grundschicht, selbständig existiert, sondern immer als Verbindungstext zwischen Jos 6 und 8. Zur Grunderzählung (DtrH) seien zu rechnen: 1b*.2-5.6a*.7.10.11ab.12-14.15ab,.16 f.18*.19-24.25b,.26ab. Sie sei durch DtrN erweitert worden (1aba* [8f*?].11abg.15ba.18b*.25ba.26a). Hinter der dtr. Erzählung stehen nicht mehr genau rekonstruierbare Überlieferungselemente, aber alle theologisch relevanten Erzählzüge seien dtr. Diese Bestimmung, die keine Unterscheidung zwischen vor-dtr. Grundlage und dtr. Bearbeitung für möglich hält, überzeugt wenig. Dazu kommt, daß die Verwandtschaftshaftung ohne individuelle Differenzierung, die die Erzählung voraussetzt, nun eine dtr. Konzeption (DtrH) sein soll. Wie sich das mit Dtn 24,16; 2Kön 14,6 verträgt, bleibt offen. In der DtrN-Bearbeitung beobachtet der Vf. eine gestiegene Bedeutung des Verwandtschaftssystems und einen stärkeren Nachdruck auf der Genealogie.

Ähnlich - hier aber einleuchtender - beurteilt der Vf. 1Sam 10,17-25 als DtrH-Text mit einem DtrN-Zusatz (V. 18 f.). Auch in dieser Passage betont DtrH das Modell einer verwandtschaftlich strukturierten Gesellschaft, DtrN die genealogische Einordnung. Aus beiden Texten ist zu erschließen, daß die Bedeutung des Verwandtschaftszusammenhangs in exilisch-nachexilischer Zeit gewaltig angestiegen ist, nachdem wesentliche "identitätsstiftende Institutionen der Königszeit ... dahingefallen" waren (108).

Zu "Verwandtschaft und Familie" untersucht der Vf. die Entstehungsgeschichte von Lev 18. Sie setzt frühestens in der Exilszeit, wahrscheinlicher aber erst danach, ein. Durch eine zweite Redaktion (R II) wurde der Inzestkatalog V. 7-16* in den Zusammenhang aufgenommen. Die Frühdatierung des Textes durch K. Elliger, bisher weitgehend übernommen, sei nicht akzeptabel, weil sie auf einem Zirkelschluß beruhe (wirklich?). Mit einer alternativen Ansetzung tut sich der Vf. schwer. Er entscheidet sich zwar für eine Entstehung im Exil oder kurz danach, aber die argumentative Absicherung dafür ist eingestandenermaßen schwach. Sicher sei aber die nachexilische Einarbeitung in den Kontext. Die patrilineare Großfamilie erhält jetzt den Rang eines gesellschaftlichen Wertes. Die Bearbeitung durch R II hat die dem Text innewohnenden Asymmetrien zugunsten der matrilateralen Seite ausgeglichen. Dies setze, meint der Vf. im Gegensatz zu einer verbreiteten Forschermeinung, eine erhebliche Stärkung der Position der Mutter und damit eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frau in der nachexilischen Zeit voraus. Generell trete in dieser Epoche die Bedeutung des Klans (= Sippe) zugunsten der Lineage zurück, so daß man von einer "Neukonstituierung der Gesellschaft auf der Grundlage der aus Großfamilien zusammengesetzten Lineageverbänden (sic!)" sprechen könne (217).

Den "Wert der Verwandtschaft" erarbeitet der Vf. anhand des Buches Rut, ausgehend von der aus den vorangegangenen Exegesen gewonnenen These, "daß im Übergang von der exilischen zur nachexilischen Zeit die Vorstellung einer vom Verwandtschaftssystem konstituierten Gesellschaft zur dominanten Kategorie einer Deutung der sozialen Wirklichkeit wurde" (233). Das Buch Rut bestätigt diese Erkenntnis, denn es zeigt, daß Jahwe den Familienbestand erhält und für diejenigen sorgt, die auch gegen den Augenschein an diesem Wert festhalten. Die Verwandtschaft erhält eine nahezu religiöse Qualität.

Der Grundbestand des Buches (sekundär sind 1,1a; 4,7.8a. 11b.12.14b.17.18-22) stammt aus frühnachexilischer Zeit und ist kaum von einer Frau verfaßt. Aber er bezeugt die gestiegene Bedeutung der Frauen. Sie werden "als die zentralen Personen für den Erhalt der Lineage-Struktur angesehen" (283). Damit werden die bei Lev 18 erzielten Erkenntnisse bestätigt: Von einer Zurückdrängung der Frau in dieser Epoche kann nicht die Rede sein, sondern das Gegenteil ist der Fall.

Zu der Entwicklung, die die Verwandtschaft in der frühen Perserzeit zu einem zentralen gesellschaftlichen Wert hatte werden lassen, setzte eine Gegenströmung ein, veranlaßt durch Geldwirtschaft und Steuerbelastung und erst recht durch die Bildung sozialer Schichten. Derartige "Auflösungstendenzen" exemplifiziert der Vf. an Mi 7,1-17. Die Grundschicht 7,1-4a.5f. stellt eine Klage mit Appell dar, in die sekundär Elemente der Tradition vom Tag Jahwes eingesetzt wurden (V.4b.7). Sie beklagt den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Grundlagen, d. h. des zwischenmenschlichen Vertrauens und der familiären Strukturen. Die Verwandtschaft ist trügerisch geworden; damit ist das Ideal einer auf die Familie gegründeten Gesellschaft gescheitert. Die ökonomischen Bedingungen und die daraus folgende Schichten- oder gar Klassenbildung haben - wie andere nachexilische Texte bezeugen - die Solidarität des Volkes, die Autonomie der Familien und das Verhältnis der Generationen zerstört. Damit ist aber auch die Zerstörung der Gesellschaft programmiert. Die Bearbeitung bringt in V.4b.7 ein Moment theologischer Hoffnung ein: Die Hilfe wird von Gott erwartet.

Trotz aller kritischen Bemerkungen: Es handelt sich um eine gewissenhafte, material- und detailreiche Arbeit, deren gründliche Lektüre sich lohnt. Freilich ist die Diktion des Vf.s nicht leicht, und gelegentlich überwuchern die Anmerkungen unnötigerweise den Haupttext. Ein Glossar erklärt wichtige Termini und erleichtert so das Verständnis. Der Vf. argumentiert auf hohem Niveau, verfällt stellenweise allerdings auch ins Dekretieren.

Mißlich ist es, daß DtrN als eine relativ geschlossene Bearbeitungsschicht behandelt wird (vgl. besonders 308 f.). Es ist aber entschieden wahrscheinlicher, daß das "DtrN" genannte Phänomen weder eine literarische noch eine konzeptionelle Einheit darstellt, sondern eine Pluralität von begrenzten spät-dtr. Bearbeitungen. Deshalb sollte man das Siglum DtrN, das eine einheitliche nomistisch-dtr. Redaktion suggeriert, besser nicht verwenden.

Besonders interessant sind die Beobachtungen, die eine gestiegene Bedeutung der Frau in der nachexilischen Zeit nahelegen und der - keineswegs schlecht begründeten - These von der Abwertung der Frau in dieser Epoche widersprechen. Dieser Problemkomplex bedürfte einer eigenen Untersuchung. Man könnte fragen, ob die vom Vf. festgestellte Rolle der Frau nur vorübergehend galt und von der durch Mi 7,1-7* und anderen Texten bezeugten gesellschaftlichen Krise nachgerade in das Gegenteil verkehrt wurde. Schließlich kann die Frage nicht unterdrückt werden, was sich an der Konzeption des Vf.s verändert, wenn Jos 7* und Lev 18,7-16* doch in eine frühere Zeit gehören. Diese Möglichkeit kann auch nach den Analysen dieser Arbeit nicht von der Hand gewiesen werden.