Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

822–824

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bauer, Daniel Tobias

Titel/Untertitel:

Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XI, 207 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 16. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-15395-41.

Rezensent:

Reiner Preul

Es ist ein altes Problem der Schleiermacherforschung, in welchem Verhältnis das philosophische Werk Schleiermachers (repräsentiert besonders in seiner philosophischen Ethik und in der Dialektik) und seine Theologie (besonders die Glaubenslehre) zueinander stehen: Passt beides zusammen, setzt es sich sogar gegenseitig voraus, oder läuft es nebeneinander her, widerspricht es sich gar, zu­mindest in einigen Teilen und Hinsichten? In Daniel Tobias Bauers Bonner Dissertation wird dieses Problem auf die Frage nach einem aus Schleiermachers Schriften gewinnbaren Bildungsverständnis fokussiert. Muss dabei auf das Gesamtwerk zurückgegriffen werden oder reicht der Bezug auf seine Dogmatik? Im Titel des Buches ist schon die Antwort enthalten. Der Vf. geht von der »These« aus, »dass man Schleiermachers dogmatische Theologie von seinem philosophischen System loslösen sollte, um sein auf Ersterer basierendes religiöses Bildungsverständnis anschlussfähig an eine postsäkulare plurale Gesellschaft zu machen.« (3) Diese These er­härtet der Vf. durch sorgfältige Untersuchung der einschlägigen Schriften – in chronologischer Reihenfolge, um Schleiermachers spannungsreiche Entwicklung nachzuzeichnen –, der er eine Sichtung der schon vorliegenden Sekundärliteratur voranstellt. Das Buch hat mit seinen vier Kapiteln und einem Fazit, in dem auf Konsequenzen und Anschlussmöglichkeiten zu gegenwärtigen religionspädagogischen Perspektiven verwiesen wird, einen klaren Aufriss.
Kapitel 1 »Bildung in Schleiermachers Frühwerk« befasst sich mit den »Monologen«, den »Reden über die Religion« in 1. Auflage und der »Weihnachtsfeier«. Schon in den Monologen, in denen es um Bildung als »Verwirklichung von Menschheit im geistigen Sinne« geht, zeigt sich, »dass Schleiermacher als Philosoph von Voraussetzungen ausgeht, die die Philosophie selbst nicht generieren kann.« (44) Dieses Problem verschärft sich in der 2. Auflage der »Reden« zu einem »philosophischen Dilemma«: Religion wird durch »Externität« (Einwirkung des Universums) konstituiert und ist insofern unverfügbar; »zugleich aber soll von philosophischer Seite her Religion notwendiges Instrument für den Unendlichkeitsbezug der Spekulation und als solche zumindest teilweise verfügbar sein.« (88)
Dieses Spannungsverhältnis wird in Kapitel 2 »Das Verhältnis von Schleiermachers Philosophie, insbesondere ›Dialektik‹, und dogmatischer Theologie, insbesondere ›Glaubenslehre‹« intensiv durchforscht und besonders durch die Hervorhebung zweier von Schleiermacher vertretener Zuordnungsmodelle einer Klärung entgegengeführt. Das eine steht für den Versuch einer »Synthese«, die über den Begriff des Gefühls, der in der Dialektik die Verbindung von Denken und Wollen und die Berührung mit dem transzendentalen Grund von Welt und Mensch darstellt und in der Glaubenslehre als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit spezifiziert wird, zu erreichen sei; das andere läuft auf »Komplementarität« und »Widerspruchsfreiheit« hinaus. Letzterem wird vom Vf. auf der Grundlage der Selbsterklärung Schleiermachers gegenüber Fr. H. Jacobi der Vorzug gegeben. Eine »inhaltliche Synthese« von »Philosophie und dogmatischer Theologie« sei nicht möglich (117), und darin gründet auch die von Schleiermacher behauptete Unabhängigkeit seiner Dogmatik von allen philosophischen Systemen.
Nach den langen kritischen Passagen sind die Kapitel 3 »Für ein religiöses Bildungsverständnis wichtige dogmatische Gedanken der ›Glaubenslehre‹« und 4 »Das Bildungsverständnis des Theo­-logen Friedrich Schleiermacher« der Konstruktion gewidmet. Fu­ßend auf Schleiermachers Ausführungen zum Wesen der Frömmigkeit, zur Gleichursprünglichkeit von schlechthinnigem Ab­hängigkeitsgefühl und Gottesbewusstsein (hierzu sehr erhellend 141 ff.), zum Geist- und Gottesverständnis sowie zu den soteriologischen Kategorien Sünde und Erlösung kommt es bei Schleiermacher und seinem Interpreten zu einer dezidiert christologischen Lösung des Bildungsproblems: Das »Bildende an der Religion« – nota bene: die Religion selbst bzw. der Glaube bildet und tritt nicht sekundär zur Bildung hinzu, obwohl es auch Bildung außerhalb religiöser Einflüsse gibt! – ist die Wirksamkeit des Bildes Christi als Urbild vollendeten Menschseins. Damit kommt religiöser Bildung die Aufgabe zu, das Bildungsverständnis der klassischen Bildungstheorien, etwa der Wilhelm von Humboldts, wonach der »Bildungsbegriff die Bildung des Menschen zu seinem wahren Men­schsein und die Einlösung seiner Bestimmung« (162) bezeichnet, zu qualifizieren: nämlich als unter der Einwirkung des Bildes Chris­ti erfolgender »Prozess der Bildung und Einbildung des Gottesbewusstseins in das sinnliche Bewusstsein« (165). Von religiöser als der eigentlich humanen, die Person formenden Bildung zu unterscheiden ist die »theologische Bildung« (174 f.); sie verbindet sich mit der religiösen Bildung, indem das Bildende der Religion be­grifflich (und wohl auch mit Mitteln der Philosophie?) reflektiert und damit auch im Blick auf Fremdperspektiven »übersetzt« wird und in den Dialog führt. Religiöse Bildung habe ihren vor nehmlichen Ort im Gottesdienst, theologische im schulischen Religionsunterricht und in der universitären Theologie (175). Weitere Differenzierungen, etwa zu »Universalität und Individualität als Bildungsdimensionen«, zur »Zweistufigkeit« des aus Schleiermachers Werk zu gewinnenden Bildungsverständnisses sowie zum »Ge­danken menschheitlicher Bildung«, können hier nur ohne Erläuterung ge­nannt werden.
Einige kritische Bemerkungen: Die abschließende Passage zur Relevanz für die gegenwärtige Praktische Theologie und besonders die Religionspädagogik wünschte man sich etwas ausführlicher. – Warum werden Schleiermachers Vorlesungen über Erziehung überhaupt nicht beachtet? Ihre Berücksichtigung hätte z. B. auch die Familie als primäre Bildungsinstitution in den Blick gebracht. – Zur Präzisierung des Bildungsprozesses hätte auch die Ekklesiologie herangezogen werden können. – Wie steht es mit der Beziehung der religiösen Bildung zur Ethik, etwa zu Schleiermachers philosophischer Güterlehre und zur »Christlichen Sitte«? Zur religiösen Bildung gehören doch auch die handlungspraktischen Folgen der Frömmigkeit, da das christlich-fromme Selbstbewusstsein nach Schleiermacher nicht nur in ein Denken, sondern auch in ein Tun übergeht. – Wenn der Vf. die Strukturähnlichkeit mit Meister Eckart hervorhebt (172 ff.), so wäre auch ein Hinweis auf Barths Vortrag »Evangelium und Bildung« von 1938 angebracht, in welchem der allgemeine Bildungsbegriff in gleicher Weise bestimmt und das Bildungsproblem durch Christus als »Bildner« theologisch beantwortet wird. – Philosophisch leuchtet mir die pauschale Kritik an Schleiermachers Zuordnung von Begriff und Welt, Denken und Sein (»statisch-ontologisches Modell«, das heute »nicht mehr zu halten« sei [106 f.]) nicht ein, auch nicht der gegenläufige Versuch, Schleiermachers Bildungsverständnis an eine Konsenstheorie von Wahrheit anzuschließen (189).
Entscheidend für die Würdigung und Empfehlung des Buches ist jedoch, dass dessen These überzeugend begründet und damit ein theologisch fundiertes Bildungsverständnis erarbeitet wird, das sowohl Schleiermacher als auch der in Rede stehenden Sache gerecht wird. Außerdem freut sich der Rezensent über die Unterstützung, die seiner eigenen »Evangelischen Bildungstheorie« durch diese Untersuchung zuteilwird.