Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

815–818

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie. Das Wesen des Chris­tentums: In Wahrheit und aus Gnade leben. 3 Bde. Bd. 1: §§ 1–59. Bd. 2: §§ 60–84. Bd. 3: §§ 85–100.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XXX, 3468 S. Kart. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-153914-5.

Rezensent:

Gunther Wenz

Martin Luther war im Laufe seines Lebens mit vielen Ämtern versehen. »Aber ein Pfarramt hat er so wenig bekleidet, wie das Wittenberger Augustinerkloster ein ›Pfarrhaus‹ war – es war nicht als solches, sondern als Kloster gebaut, und es wurde nicht von einem Pfarrer und seiner Familie bewohnt.« (J. Schilling, Leitbild Luther? Martin Luther, das deutsche Pfarrhaus und der evangelische Pfarrerstand, in: Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses, hrsg. v. Deutschen Historischen Museum, Berlin 2013, 33–38, hier: 34 f.) Dennoch hat man in der evangelischen Welt und keineswegs nur in ihr »Luthers Haus zum Pfarrhaus und die Lutherfamilie zur Pfarrerfamilie gemacht« (a. a. O., 35), und zwar zur Pfarrfamilie par excellence. Es ist bekannt und ein bemerkenswertes soziokulturelles Faktum, dass viele deutsche Geistesgrößen evangelischen Pfarrfamilien entstammen. H. gehört zu ihnen; das Mammutwerk seiner dreieinhalbtausend Seiten umfassenden Systematischen Theologie ist dem Andenken von Pfarrer Bruno-Walter Herms und seiner Ehefrau Marga Elise gewidmet, und zwar mit der Begründung: »Rückblickend ist mir klar, daß ich das Lebensgefühl, aus dem heraus ich gelebt und gearbeitet habe, dem Pfarrhaus verdanke, aus dem ich stamme, und meinen Eltern.« (XXX)
Der 1940 geborene Mann aus dem Pfarrhaus hat seit 1979 als Ordinarius für Systematische Theologie an den Universitäten München, Mainz und Tübingen gelehrt, war in zahlreichen Gremien seiner Kirche tätig und hat die EKD wie wenig andere über Jahrzehnte hin geprägt. Spätestens mit dem soeben erschienenen opus magnum hat er sich auch in die deutsche und internationale Theologiegeschichte eingeschrieben. H.s Systematische Theologie zählt zweifellos zu den bedeutendsten Werken evangelischer Fundamentaltheologie, Dogmatik und Ethik im frühen 21. Jh. Das gesamte Spektrum fundamentaltheologischer, dogmatischer und ethischer Themen wird darin zusammenhängend in der Absicht zur Darstellung gebracht, aus dem gegenwärtigen christlichen Leben in der Geschichte heraus das Wesen des Christentums zu erfassen. Am Ende seines Vorworts hat H. die Leitperspektive und die Gesamtsicht seines Meisterwerkes vorgreifend umrissen (vgl. XXVII–XXIX); wer sich, ohne bereits ins Detail zu gehen, einen Überblick über das weitläufige Argumentationsfeld verschaffen möchte, sei auf diese Seiten verwiesen. Weitere Aufschlüsse vermag ein eingehendes Studium des Inhaltsverzeichnisses zu vermitteln, das einen Eindruck von der architektonischen Struktur und vom Aufbau des Ganzen gibt. An ihm ist die nachfolgende Systemskizze unmittelbar orientiert.
Das dreibändige Werk ist in vier Hauptteile von insgesamt 100 Paragraphen gegliedert. Der erste Teil bestimmt als Grund und Gegenstand christlicher Theologie das christliche Leben, der zweite den Glauben als dessen Grundakt, der hinwiederum in der Offenbarung seinen Grund und Gegenstand findet. Nach Analysen ihrer Funktion, ihrer Dimensionen und Stufen, ihres Effekts, ihrer Möglichkeitsbedingung und ihres Grundes wird die Offenbarung als Basis der verantwortlichen Realität menschlichen Lebens erwiesen und in ein asymmetrisches Konstitutionsverhältnis zur Vernunft gesetzt: »Menschliche Vernunft«, so lautet die Grundthese, »ist in Offenbarung begründet und von ihr abhängig« (231), da für das Bestimmtsein des Menschen zu rationaler Selbstbestimmung in Theorie und Praxis Erschlossenheitslagen wesentlich sind, die ihrerseits allesamt durch Erschließungsereignisse, also von Offenbarungsgeschehen, fundiert sind.
Ohne Offenbarung gibt es keine Vernünftigkeit der Vernunft. Gilt damit die vernünftige Angewiesenheit auf sie als anthropologisches Universale, so wird mit dem Bekenntnis der Christusoffenbarung der spezifische Charakter individuellen und gemeinschaftlichen Christenlebens und seines Grundaktes, nämlich des Chris­tusglaubens als eines, wie H. sagt, vertrauenden sich-Verlassens auf das ausgezeichnete, universal kommunikable Exemplar religiöser Offenbarung zur Geltung gebracht, und zwar unter fünf Gesichtspunkten: unter dem Aspekt der Begründung der unüberbietbaren Konkretheit christlicher Lebensgewissheit, hinsichtlich ihrer Bildungsgeschichte, bezüglich der Selbstvergegenwärtigung des Versöhnungswillens des Schöpfers in seiner Inkarnation durch den Heiligen Geist als Offenbarung der uranfänglichen Bestimmung des Menschen, ferner in Bezug auf ihren Ort in der Geschichte als Höhe- und Wendepunkt der Bildungsgeschichte der Menschheit und schließlich in ihrer geschichtlichen Identität und gegenwartsbestimmenden Kraft als in ihrem Wirken durch die Kirche.
Nach einer zwischengeschalteten offenbarungstheologischen Lichterlehre, die vom lumen naturale, vom lumen gratiae und vom lumen gloriae handelt und für die Organisation des dogmatischen Stoffs grundlegend werden wird, charakterisiert H. die Offenbarung des göttlichen Versöhnungswillens in Jesus Christus als Beginn der Endphase seiner Realisierung. Dies geschieht unter der Überschrift: Der Grund der christlichen Lebensgewissheit als ihr Gegenstand. Was damit gemeint ist, umschreibt folgende These: »Indem das Bildungsgeschehen der Christusoffenbarung den christlichen Glauben als unverwechselbare Bildungsgestalt menschlicher Selbstgewissheit begründet, macht es sich selbst auch zum Gegenstand des Glaubens« (511), nämlich zu dem, was dem Glauben zu verstehen gegeben und aufgegeben ist. Kraft ihres Gegenstandes ist die christliche Lebensgewissheit gewisse Hoffnung als Bedingung und Motiv der Aktivität des Glaubens, deren Grundakt und Wirklichkeit eigens bedacht werden, bis der zweite Hauptteil des Werkes mit Überlegungen zum christlichen Leben als Bekenntnis des christlichen Glaubens schließt.
Thema des dritten Hauptteils ist das Wortbekenntnis, in dem der Bekenner in der Bekenntnisgemeinschaft der Glaubenden, der er durch den Glauben im Grund desselben verbunden ist, bekennt, »was ihm als das Geschehensganze, welches die bildungsgeschichtlich gewordene Bestimmtheit seiner Lebensgegenwart, also seines Jetzt-hier, konstituiert, so gewiß ist, daß er sich darauf im Glauben an es restlos vertrauend verläßt. Das ist im Falle des christlichen Glaubensbekenntnisses die versöhnende und befreiende Selbstver gegenwärtigung des dreieinigen Schöpfers für das ge­schaffene Ebenbild innerhalb der geschaffenen Welt-des-Menschen in seinem inkarnierten Sohn/Logos im Medium seines Heiligen Geistes.« (562) Nach Prolegomena zu den gleichursprünglichen Aspekten der dauernden Konstitution menschlicher Le­bensgegenwart und dem Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität sowie einleitenden Bemerkungen zu Aufbau und Themen des christlichen Wortbekenntnisses bedenkt Herms als Erstes das dreieinige Wesen der glaubensbegründenden Ur­sprungsmacht, und zwar hinsichtlich ihrer Existenz, ihrer Ökonomie, ihrer immanenten Verfasstheit und ihrer Eigenschaften. Sodann werden Werk und Wirken der göttlichen Ursprungsmacht als Manifestation ihres Wesens in Bezug auf die geschaffene, die versöhnte und die vollendete Welt des Menschen expliziert. Die Schöpfungslehre handelt nach einer terminologiegeschichtlichen Einleitung vom Schaffen der Welt-des-Menschen, von den präpersonalen und personalen Prozessen ihres Geschaffenseins, von der Schöpfung als Medium für das Werden der vollkommenen Gemeinschaft Gottes mit den Menschen, von ihrer ursprünglichen und bleibenden Güte und ihrem »status iste« sowie von ihrem Verheißungscharakter. Ein Paragraph zur Ekklesia ab Abel beschließt die Schöpfungslehre.
Das durch Gott den Schöpfer gewährte lumen naturae enthält die Verheißung des lumen gratiae in sich, die sich im Ereignis der Versöhnung der Welt-des-Menschen durch das Christusgeschehen erfüllt. Nach Erörterungen zu seinen Aspekten und ihrer Ordnung wird das Offenbarungsgeschehen in Christus in vierfacher Hinsicht thematisiert, nämlich unter dem Aspekt der Inkarnation des Wesenswillens (des Logos) des Schöpfers, hinsichtlich des Wirkens des inkarnierten Logos im Medium des Heiligen Geistes durch die Geistmitteilung und in Bezug auf die Schaffung der Glaubensgemeinschaft als Befreiung und Versöhnung der Menschheit, in welchem Kontext von der Zwei-Regimenten- bzw. Zwei-Reiche-Lehre gehandelt wird. Der vierte christologisch-soteriologische Gesichtspunkt betrifft die Selbstgewissheit des Glaubens unter Bezug auf die Wendung »simul iustus et peccator«. Schließlich steht der Verheißungscharakter des Lebens im lumen gratiae zur Verhandlung an, in welchem das lumen gloriae zum Vorschein kommt, sowie die Erinnerung und Erwartung des vom Lichte der Gnade erleuchteten Lebens. Die Thematisierung des vom lumen gratiae verheißenen Lebens im lumen gloriae beschließt den dritten Hauptteil der H.schen Systematischen Theologie. Erörtert werden folgende Aspekte der individuellen und universalen Eschatologie: das Auferwecktwerden zum Gericht, Christi Gericht der Werke, das ewige Leben Gottes als unsere ursprüngliche und bleibende Heimat sowie unser ewiges Leben in Gott als Ziel, nicht als Ende des schöpferischen Lebens Gottes, als Leben in der vollendeten Welt, als Anteilhabe am vollendeten Gottesreich, als ewige Seligkeit, in der Gott alles in allem sein wird.
Mit der Lehre von den Letzten Dingen ist der erste Band von H.s Systematischer Theologie zum Abschluss gebracht. Die beiden Folgebände umfassen den vierten Teil des Werkes und sind insgesamt dem Tatbekenntnis des Glaubens und damit Grundfragen der christlichen Ethik gewidmet. Entfaltet wird das christliche Ethos als ausgezeichnetes Exemplar von menschlichem Ethos überhaupt in Form einer Theorie, die um die Begründung des Tatcharakters des christ-lichen Bekenntnisses in dessen Gegenstand weiß und insofern christliche Theorie des christlichen Ethos zu nennen ist. Drei Explikationsformen kennzeichnen H.s Ethik, nämlich Pflichtenlehre, Tugendlehre sowie Güterlehre, wobei die Güterlehre und innerhalb dieser die Lehre vom Tun des Glaubens als Dienst am bonum commune den breitesten Raum einnimmt. Es gibt kaum einen Aspekt der Wohlordnung des Zusammenlebens, der von H. nicht in Betracht gezogen wird. Erörtert werden die Institutionen der Reproduktion des menschlichen Zusammenlebens als Tun des Glaubens, nämlich Geschlechtsgemeinschaft, Zeugen und Empfangen von Menschen, Schwangerschaft, Geburt, Primärsozialisation, Familie und Ehe samt den Herausforderungen, die der Wandel der Reproduktionsinstitutionen mit sich führt, Probleme der Güterproduktion, der Gesundheitspflege, der Wirtschafts- und Sozialordnung, ferner die Institutionen der Gewaltminimierung durch Gewaltmonopolisierung, nämlich Herrschaft und Recht, die Institutionen der Forschung, der Lebenssinnkommunikation, wie gesagt wird, zudem die Medien, die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit einschließlich des Bildungswesens und der Wissen- ­schaften bis hin zu Themen wie Spielen und Feiern, Nachhaltigkeit und Globalisierung. Am Ende des voluminösen Werkes kommt im Kontext der Güterlehre schließlich auch noch das Tun des Glaubens am bonum proprium in Betracht, und zwar unter den Gesichtspunkten der Lebensplanung, des Lebensgenusses, der Lebenskunst und des Alterns, des Reifwerdens für die Ewigkeit und des Sterbens im Glauben.
Für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Werk von der Gestalt und dem Gehalt der H.schen Systematischen Theologie ist in einer Rezension wie dieser rein quantitativ kein Platz; sie sei daher gar nicht erst angestrebt. Den geduldigen, intensiv studierenden, die Argumente gedanklich nachvollziehenden Leser, den es verdient, wird das opus magnum gewiss mit reicher Fülle belohnen und zwar ganz unabhängig davon, ob er die systematische Grundkonzeption teilt und alle Wege ihrer Durchführung mitzugehen bereit ist. Fest steht: H. ist ein großer Wurf gelungen; die Summe seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit wird weit über den Tag hinaus bedeutsam bleiben und ihre Wirkung entfalten und dies nicht trotz, sondern wegen ihres entschieden positionellen Ansatzes. Auf zu erwartende Kritik an der Positionalität, die seine Konstitutionstheorie christlichen Wesens charakterisiert, hat H. im Anschluss an das Vorwort seines Werkes bereits mit einigen Bemer kungen prospektiv Bezug genommen. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als verliere eine auf Positionalität verpflichtete Theologie vorweg ihre öffentliche Relevanz in einer pluralistischen Gesellschaft. Doch hält diese Sicht einer genaueren Prüfung nicht stand: Denn erstens lebt, wie H. mit Recht vermerkt, gerade eine liberale Öffentlichkeit von der pluralen Vielfalt von Positionen, denen anders als in einem prinzipialisierten, tendenziell totalitären, positionelle Differenzen vereinheitlichenden und gleichschaltenden Scheinpluralismus öffentliche Anerkennung im Rechtsrahmen der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche zuerkannt werden müsse, ohne sie ins bloß Private abzudrängen. Von daher sei zweitens jeder Versuch, sich weltanschaulich/religiös-ethisch »auf einer Ebene überpositionaler Allgemeinheit zu bewegen […] unter den Bedingungen des Menschseins nicht einlösbar und daher stets als zweckdienliche, nämlich genau als der Dominanz einer Position dienliche, Ideologie zurückzuweisen« (XX). Drittens eigne eine Position wie derjenigen des christlichen Lebens und einer sich auf sie fundierenden Theologie exemplarischer Charakter insofern, als sie durch ihre bewusst bezogene Positionalität alle anderen Positionen in einem plural verfassten und freien Gemeinwesen dazu motiviere, sich auf sich selbst und ihren Fundierungsgrund zu besinnen und von dort her entsprechende Stellung im Sinne einer konstruktiven Streitkultur zu nehmen. Kurzum: »In einem in Wahrheit pluralistischen Gemeinwesen ist Theologie nicht vorbei an oder trotz, sondern wegen und kraft ihrer Positionalität ›öffentliche Theologie‹.« (XXI)
Wenn es mit H.s These einer grundlegenden Offenbarungsabhängigkeit menschlicher Vernunft, die sich selbst als geschichtlich versteht, seine Richtigkeit hat, dann hat dies weitreichende philosophisch-wissenschaftstheoretische Folgen, was zum Anlass einer abschließenden Münchener Reminiszenz genommen werden soll: In einem Aufsatz zum Thema »Offenbarung als Kategorie philosophischer Theologie« (Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 1, Göttingen 1999, 238–245) hat W. Pannenberg auf seine Weise die Offenbarungsbezogenheit und Religionsaffinität aller philosophischen Reflexion herauszustellen versucht und dabei, wie so oft, auf die für seine Systemanlage weichenstellende dritte cartesianische Meditation verwiesen, wonach alles menschliche Bewusstsein einschließlich des Bewusstseins, mittels dessen das menschliche Ich um sich selbst weiß, auf einer Unendlichkeitsintuition beruhe, da Selbst- und Weltverhältnisse nicht anders denn als Einschränkung eines unbestimmt wahrgenommenen Unendlichen erfasst werden könnten. Pannenberg hat mit der bei Descartes vorgefundenen Annahme, dass eine Unendlichkeitsintuition als oberste Beding ung aller möglichen Erfassung endlicher Inhalte fungiere, die Überzeugung von der durchweg geschichtlichen Verfassung von Philosophie und Theologie in ihrem differenzierten Verhältnis zu­einander verbunden. Es wäre interessant und lohnend, H.s Sys-tematische Theologie und diejenige Pannenbergs unter diesem Ge­sichtspunkt ins Gespräch zu bringen; vergangene Münchener Zeiten würden so gewiss erneute Relevanz für Gegenwart und Zukunft von Theologie und Kirche gewinnen.