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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

813–814

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bühler, Pierre, Berg, Stefan, Hunziker, Andreas, u. Hartmut von Sass [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anfechtung. Versuch der Entmarginalisierung eines Klassikers.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XXIII, 296 S. m. 7 Abb. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 71. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-154718-8.

Rezensent:

Martin Hailer

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die im Mai 2013 anlässlich der Emeritierung von Ingolf U. Dalferth stattfand. Er beansprucht, »der Anfechtung als einem Klassiker der Theologie erneut exegetische, dogmatische und religionsphilosophische Aufmerksamkeit zu schenken« (V).
Zunächst haben Exegeten das Wort: Konrad Schmid versteht das Thema als Umgang mit Dissonanzphänomenen. Er legt Beobachtungen zum vorexilischen Israel vor, zur Krisenverarbeitung in Jer und zum Aufkommen einer Theologie der Niedrigkeit bei DtJes. Hi und Qoh werden mit kurzem Blick gestreift. Der neutestamentliche Beitrag von Hans Weder fasst Anfechtung zunächst als Zweifel und legt eine Exegese von Joh 20,24–29 vor, die – gängiger Auslegung entgegen – das Sehen des »ungläubigen Thomas« nicht kritisiert, sondern als Grundlage des Glaubens anderer versteht. Die Überlegungen zur Versuchung Jesu zeigen, dass »die Negativität immer schon von Gott lebt, und zwar von der Destruktion der Gaben, die Gott zum Leben gibt« (27). Die »eigentliche Anfechtung« besteht in der »Versuchung des Gottessohns zur Stärke, zur Übermacht, zur Unwiderstehlichkeit« (32). Das alttestamentliche Niedrigkeitsmotiv findet insoweit seine christologische Entsprechung.
Die Reihe der systematisch-theologischen Beiträge eröffnet Chris­toph Schwöbel. Er sieht drei Formen: die Anfechtung aufgrund des unbegreiflichen Weltwirkens des Schöpfers, die Infragestellung der Offenbarung in Christus und die bedrängende Frage, ob Gottes Heil denn auch für mich gelte (52 f.). Die Überwindung der Anfechtung ist nicht ein Hinter-sich-Lassen, sondern »Weiterglauben« und »ge­hört zum Prozess des Gebildetwerdens des Glaubens, der von Gott selbst vollzogen wird« (55). Anders als im Vollzug des Glaubens ist das nicht möglich, so dass der denkende Glaube immer an den ge-lebten verwiesen wird. In seinem materialreichen Aufsatz kontrastiert Philipp Stoellger zunächst Anfechtung und Versuchung: Von beiden geht Irritation aus, wobei Versuchung die Lust- und Anfechtung die Angst- und Unlustseite bespielt (73–76). In Variation des bekannten Motivs, dass die Anfechtung Gott selbst zum Subjekt habe, führt er dann aus, dass der Glaube anfechte, er also als »Selbstanfechtung« (91, i. O. herv.) zu verstehen sei. Das bedingt, dass der Glaube nicht als das dem Menschen Eigene begriffen wird, sondern als »radikale Fraglichkeit des Vertrauten, Gewohnten oder der Erfahrung« (97). Dieser Vorschlag ist interessant, weil er zu einfache Glaubensmodelle (»Beheimatung«, samt entsprechend defizienter Ekklesiologie) bestreitet und zugleich die Anfechtung bei Wahrung ihres Charakters als Malum aus der Ecke des Negativen holt. Jens Wolff entfaltet ein virtuoses Spiel von Lektüre und Relektüre von Texten, die sich auf die sprichwörtlich gewordene Versuchung des Wüstenvaters Antonius beziehen. Zu Wort kommen u. a. eine Lesepredigt Luthers (WA 10,3, 80–85) und Michel Foucaults Nachwort zu Gus-tave Flauberts »Versuchung des heiligen Antonius« (zuletzt 1874). Zahlreiche Motive kommen hier vor, wobei dem Rezensenten eine nachvollziehbare Argumentation allerdings verlorenging. Michael Moxter legt dichte Referate zum Anfechtungskonzept bei Karl Barth und bei Paul Tillich vor. Das Barth-Referat – weitgehende Kritik wird beiherspielend eingebracht – zeigt u. a. anhand KD II/1 Anfechtung als notwendige Implikation des Offenbarungsglaubens. Bei Tillich ist Anfechtung die Bedrohung durch das mögliche Nichtsein. Das Remedium ist »ein im Sein selbst gegründeter Mut« (157). Bei beiden gilt: Das – sehr unterschiedlich aufgefasste – Thema der Theologie impliziert Anfechtung und ist zugleich der Grund für die ihr entgegenzusetzende Gewissheit. Der Aufsatz von Eric E. Hall knüpft bei Stoellger an, indem er Versuchung und Anfechtung un­terscheidet. Zur Hauptsache wird hier ein sowohl philosophisches als auch theologisches Spektrum des Versuchungsbegriffs entfaltet. Mit Harry G. Frankfurt unterscheidet er Bedürfnisse erster und zweiter Ordnung und bestimmt Versuchung als Konflikt zwischen diesen beiden Ebenen. (165) Hier liegen gute Argumente bereit, Anfechtung und Versuchung phänomenologisch wohlinformiert zu unterscheiden.
Die religionsphilosophischen Beiträge: Auch John Caputo konzentriert sich auf das Phänomen der Versuchung. Der Ton liegt hier auf dem Abschied von der Vorstellung, dass der Herr in statu exinanitionis nur bedingt auf seine absolute Macht verzichtet, um sie zu einem späteren Zeitpunkt umso wirkungsvoller einzusetzen. Vielmehr sollen Gott und (weltlich vorstellbare) Macht überhaupt nicht zusammengedacht werden (198). Gottes Macht ist Paradox, ist sein Ruf, bedingungslos im eminenten Sinn des Wortes. C. wiederholt sein Plädoyer für ein strikt nicht-platonisierendes Chris­tentum (The Weakness of God, 2006), hier mit der über-raschenden Pointe, dass der Versucher nicht Agent der Finsternis ist, sondern Hermeneut der Wahrheit über Gottes Macht. Zu Søren Kierkegaard liegen die Aufsätze von Stephen Mulhall und Heiko Schulz vor. Mulhall thematisiert vor allem Kierkegaards Basisüberzeugung, dass die Gottesbeziehung des (christlichen) Glaubens sowohl Gegenstands- als auch Wertbezüge überschreitet: Sie ist die »teleologische Suspension des Ethischen«. Freilich widersteht sie dann jedem Versuch, als sinnvoll beschrieben zu werden (221). Direkt auf das zugehörige Phänomen der Anfechtung fokussiert der besonders kenntnisreiche und klare Beitrag von Schulz. Auch hier werden Anfechtung und Versuchung unterschieden, wobei die Versuchung dem Bereich des Ethischen zufällt. Zur Anfechtung hingegen gehört zugleich der »Zweifel, ob sie de facto vorliegt« (237). Kierkegaard zeigt sich als derjenige, der Luthers ungeschriebene Theologie der Anfechtung ausbuchstabiert: Nur der angefochtene Glaube wird gerechtfertigt – aber eben nicht vor dem Forum der Vernunft, sondern von Gott. Das schließt externe Apologetik aus, nicht jedoch das Vorliegen interner Gründe für die Wahrheit des christlichen Glaubens. Induktive Argumente werden durch nachhaltigen Zweifel an deduktiven Argumentationstypen nicht in Mitleidenschaft gezogen. Der abschließende Text von Claudia Welz thematisiert die Rolle des Gebets angesichts der An­fechtung: Wie soll derjenige angesprochen werden, von dem die Irritation des auf ihn gerichteten Vertrauens doch ausgeht? Hier kommen neben Kierkegaard u. a. Dewi Z. Phillips und Emmanuel Levinas zu Wort. In ihrer Auslegung der Bindung Isaaks schließt W. sich der Deutung an, in Gen 22 gehe es mitnichten um blinden Gehorsam: Abrahams Schweigen prüft seinerseits Gott und behaftet ihn bei seiner Vertrauenswürdigkeit (278). Auch hier also ist der Urheber der Anfechtung zugleich einzig möglicher Adressat für ihre Überwindung.
Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass die »Entmarginalisierung« des Klassikers allerdings geraten ist, weil der christlicheGottesbegriff ohne ihn um eine charakteristische Schärfe und Schwierigkeit ärmer wäre. Insbesondere die Unterscheidung von An­fechtung und Versuchung in ihren vielen Facetten ist dabei ein Ergebnis des Bandes, nicht minder jedoch die geltungstheoretischen Konsequenzen für einen Gottesbegriff, der aus guten Gründen auf das Thema Anfechtung nicht verzichten kann.