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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

810–812

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

[Barth, Ulrich]

Titel/Untertitel:

Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. R. Barth, A. Kubik u. A. von Scheliha.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XI, 484 S. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-154298-5.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Eine Theologie, die sich als religionstheoretische Entfaltung spätmoderner Subjektivität versteht, musste auf einen Einwand stets gefasst sein: Trotz ihrer wiederholten Rede von der »gelebten Religion« oder dem Primat religiösen Selbstverständnisses glaubender Zeitgenossen bleibe solch ein Ansatz im Abstrakt-Formalen ste-cken – oder dogmatisch gewendet: Eine Religionstheorie unterhalte ein bestenfalls reserviertes Verhältnis zu klassischen Lehrstücken neuzeitlicher Theologie, so dass genuin materialdogmatische Beiträge aus dieser Richtung nicht zu erwarten seien. Und so ist es eine überaus interessante Entscheidung, die hier zu besprechende Festschrift zum 70. Geburtstag des Hallenser Theologen Ulrich Barth genau auf diesen Einwand reagieren zu lassen. So setzen alle Beiträge das subjektivitätstheoretische Paradigma lautlos oder ganz explizit voraus, widmen sich aber vor diesem in sich komple-xen, kaum einheitlichen Theorierahmen ganz konkreten Loci der christlichen Dogmatik.
Schon der Aufbau des umfangreichen Bandes dokumentiert dieses Unterfangen, indem die fünf Abschnitte – zum Schöpfer, zur Kreatur, zu Christus, der christlich-geistlichen Lebensweise, zur Lehre von den letzten Dingen – heilsgeschichtlich angeordnet sind. Barths Bestimmung der Religion als »Deutung der Erfahrung im Horizont der Idee des Unbe­dingten« (so in Religion in der Moderne, 14) wird immer wieder affirmativ, zuweilen mit leicht kritischem Vorbehalt aufgenommen und weitergedacht, wobei auch Barths zumeist problemgeschichtlicher Zugriff adaptiert wird, um im Gespräch mit Kant, vor allem natürlich mit Schleiermacher, aber auch u. a. Ritschl und Tillich den dogmatischen Einzelfragen neue Facetten abzugewinnen. Die insgesamt 23 Autoren – keine einzige Frau, alle aus dem deutschsprachigen Bereich, niemand extra ecclesiam aut theologiam – setzen sich mutig der Gefahr aus, jenen eingangs erwähnten Einwand nur nochmals prominent zu bestätigen. Und genau das passiert – nicht.
Bereits der erste schöpfungstheologische Abschnitt spiegelt die skizzierte Konstellation – oder fragend formuliert: Was hat eine theologische Subjektivitätstheorie zur Schöpfung zu sagen, wenn sie doch im Gefolge von Schleiermacher den Glauben wie auch die Theologie »entkosmologisiert«? Zunächst ist gar nicht klar, ob diese Diagnose zutreffend ist, wie Christian Senkel zu bedenken gibt. Dazu unterscheidet er divergente Lesarten zum Schleiermacherschen Schöpfungsbegriff, um insbesondere mit Herder einem »intramundane(n) Verständnis göttlicher Kreativität« und damit einem spinozistischen Verständnis des Kreatürlichen nachzugehen (32). Matthias Neugebauer und Markus Buntfuß betreten methodisch traditionelleres Gelände, wenn sie danach fragen, wie bestimmte Begrifflichkeiten auf die Formatierung religiösen Selbstbewusstseins wirken. Während jener den Wertbegriff gegen Jüngels Kritik verteidigt und Werte als »Portal und Prolongat zum Unbedingten« für theologisch unverzichtbar hält (53), bestimmt dieser die Vorstellung der Gotteskindschaft als eine durchaus im Kontrast zur Gottebenbildlichkeit bis heute anschlussfähige »Wurzelmetapher« mit aktuellem Deutungs- und Erlebnispotential. Diesen substantiellen Beiträgen ist ein kleiner Essay von Johann Hinrich Claussen vorgeschaltet, der nach den Lektüren der religionsphilosophischen Spätwerke von Richard Dworkin und Volker Gerhardt Sympathien für die Vorstellung einer »Religion ohne Gott« bekundet (4).
Der zweite Abschnitt widmet sich der Geschöpflichkeit mit zwei Akzenten, zum einen der Probleme von Sünde und Bösem, zum anderen einer theologischen Affektenlehre. In das erste Regis­ter gehört Georg Neugebauers Beitrag, der das »Fühlen der Sünde« bei Luther bedenkt, indem ein weiter Begriff des Fühlens als eines eigenen Erkenntnismodus angesetzt wird (112 f.). Noch stärker theologiegeschichtlich gehen Jan Rohls und Thorsten Moos vor, indem noch einmal die positive Bewertung des Falls bei Kant und, gebrochener, bei Kleist (»Der zerbrochene Krug« …) rekapituliert wird bzw. indem das Übel als »Lebenshemmung« bedacht und Ritschls Kritik an Schleiermacher entfaltet wird, wonach die Idee zu kritisieren sei, jeder Weltzustand sei mit einem intakten re-ligiösen Bewusstsein »kompossibel« (156). Spannend wären hier sicher Überlegungen zur Anfechtung gewesen. Einen anderen Ak­zent setzen die beiden übrigen Texte dieses Abschnitts: Martin Fritz folgt Tillich, der den Begriff der Schwermut als negatives Pendent zur Tugend versteht und darin das Gefühl des Seinsmangels ausgedrückt sieht (94 f.). Doch genau dieses Gefühl spanne mit dem konträren Pol des Mutes ein Spektrum auf, das »das eigentliche Signum des Geschöpflichkeitsbewusstseins« ausmache (105). Den für eine Festschrift thematisch wirklich treffenden Beitrag hat Roderich Barth vorgelegt, um nach einem kritischen Durchgang der Arbeiten von R. C. Roberts, E. Tugendhat und D. Henrich nach einem theologischen Begriff der Dankbarkeit zu fahnden. Im Bild (!) Jesu werde emblematisch deutlich, dass Dankbarkeit ein religionsaffines Gefühl sei (185.191).
Ebendiese christologische Fährte nimmt der kurze dritte Teil auf. Peter Grove geht Ritschls Kritik an den altkirchlichen Entscheidungen nach, wobei hätte klarer werden können, ob eine heutige Subjektivitätstheorie die Absage an eine Zwei-Naturen- und Trinitätslehre mitmachen müsste (214 f.). Michael Murrmann-Kahl zeigt in Abgrenzung am Jubilar auf, warum man sich die Verabschiedung der Lehre von der Person Jesu theologisch nicht leisten sollte (219.231), während Folkart Wittekind spekulativ vorgeht und klärt, wie der Gehalt des Glaubens erst im Vollzug »evident« wird (235). Warum allerdings Jesus Christus der einzige Ort dieses Wahrheitsgeschehens sei (242), geht auch aus dieser Spekulation nicht hervor.
Gut trinitarisch gelangt man im vierten und, bezeichnenderweise, längsten Teil zur Pneumatologie. Christian Danz weitet das Lehrstück beträchtlich aus, wenn er festhält: »Mit dem Heiligen Geist beschreibt sich die Religion selbst als ein unableitbarer Reflexionsakt im Selbstverhältnis des Bewusstseins in ihrer Einbindung in wandelbare religionskulturelle Traditionen.« (259 f.) Der Pneumatologie kommt damit eine normative Funktion zu (271 f.), wobei sich die Frage stellt, ob der konkrete Gehalt und Zuschnitt der Lehre vom heiligen Geist in der Promovierung dieses Lehrstücks noch berücksichtigt ist (zumal Danz bereits der Christologie einen ähnlichen Status zugesprochen hat; vgl. Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 222). Genau hier spürt man dann doch, dass der zu Beginn aufgeworfene Einwand des Formalismus nicht aus der Luft gegriffen ist. Einem ähnlichen Bedenken setzt sich Jörg Dierken aus, aber ganz bewusst, wenn er dazu aufruft, Erleben und Deuten als geisttheoretische Grundpolaritäten anzusehen und damit die Pneumatologie zu einer Theorie der Kultur auszubauen (405.419).
Etwas anders gelagert ist der Aufsatz von Roland M. Lehmann. Er präsentiert J. S. Semler, W. A. Teller und Kant als Vorläufer der These von der invisible religion (besonders 274). Auch die Rechtfertigungslehre wird der Pneumatologie zugeordnet, wenn Wilhelm Gräb die über jede Anerkennung hinausgehende »göttliche Rechtfertigung« als Element gegenwärtiger religiöser Selbstdeutung verteidigt – und dies wiederum gegenüber anders akzentuierten Erwägungen von Ulrich Barth (307.310). Arnulf von Scheliha und Björn Pecina widmen sich der Sakramentaltheologie. Im kritischen Durchgang durch die (nach)reformatorische Tauftheologie folgt von Scheliha Tillich, wenn die unbedingte Zuwendung Gottes nicht mit der Taufe identifiziert wird, aber doch dort ihren öffentlichen Ausdruck finde (342). Pecina setzt mit dem Konflikt zwischen Luther und Zwingli ein, um Luthers Abendmahlsverständnis einer fruchtbaren Lesart zuzuführen: »Im Mit-Begreifen wird begriffen, dass der Begriff selbst ein Zustande-Kommendes im Vollzug des Begreifens ist.« (361) Die sakramentale Ereignislogik – by the way: »›Ereignis‹ ist ein Unwort, bei dem bei mir alle theologisch roten Lampen aufleuchten.« (Ulrich Barth in Wien 2010) – geht hier in eine Theorie begrifflichen Denkens über. Luther fungiert auch für die Überlegungen von Andreas Kubik zum Mehrwert des Glaubens(begriffs) als wesentlicher Referenzpunkt. Nicht die Inhalte, sondern deren Aneignung stünden seitdem im Mittelpunkt, wobei die Alternative zwischen propositionalem und fiduzialem Glauben unterlaufen werden soll, indem Glaube als »jenes Gefühl der Nicht-Austauschbarkeit für das religiöse Leben« charakterisiert wird (375). Gerade diese Nicht-Austauschbarkeit steht für Gerson Raabe auf dem Spiel, zumal die Frömmigkeitskrise als »irreparabel« anzusehen sei (397). Sie bestehe in dem seit Kant manifesten Verlust des Glaubensgegenstandes, der insbesondere in der Gebetspraxis verarbeitet werden müsse (400).
Der Band wird mit einem knappen eschatologischen Abschnitt abgerundet. Jörg Lauster und Michael Moxter wenden sich dazu Kants Schrift »Das Ende aller Dinge« zu, allerdings mit ganz unterschiedlichen Intentionen. Lauster möchte gleichsam gegen Kant die Trennung zwischen Theologie und Kosmologie aus ihrer Absolutheit entnehmen und sieht die bleibende kosmologische Dimension des Theologischen in der Interpretation nichttheologischer Erklärungen, auch derjenigen des Endes aller Dinge (435). Moxter hingegen erinnert daran, warum die Eschatologie auch für Kants Denken konstitutiv bleibt: Sie sei »Platzhalter für die Rationalität der Hoffnungsdimension des christlichen Glaubens, ohne den es eine docta spes nicht gäbe« (456). Am Schluss steht eine exegetische Studie von Martin Arneth zum Psalm 73 und dessen Text und Kontext. Da­durch wird nochmals die spätweisheitliche Kritik am Tun-Ergehen-Zusammenhang deutlich, und zwar »zugunsten eines ›höheren Lebens‹« – wie auch immer dieses genau aussehen könnte.
Durchzogen ist der Band von einem prekären Dual, den der Titel ankündigt – Erleben und Deuten, wobei es weniger um Erlebnisse (statt Erfahrungen?) oder um Deutungen (statt Interpretationen?) geht, sondern vielmehr um dieses kleine »Und« zwischen ihnen. Die theologischen Erwägungen zu dieser Konjunktion gleichen eher »indirekten Mitteilungen«, weil der Titel nirgends unmittelbar zum Thema wird. Erleben und Deuten als gedeutetes Erleben und daher auch als erlebendes Deuten? Vieles spricht für diese Lesart einer programmatisch starken Relation. Und genau das ist der Grund, warum eine formale Subjektivitätstheorie auch materialdogmatisch einen Unterschied machen kann.
Durch den gemeinsamen Bezug zu einem subjektivitätstheoretischen Ansatz, durch die stete Referenz auf das Werk eines seiner wichtigsten Vertreter und durch die gleichsam »heilsgeschichtliche« Aufteilung der einzelnen Beiträge kommt dieser Festschrift eine Konsistenz zu, die in diesem Genre selten ist. Der Preis dafür ist allerdings nicht gering: Einen Beitrag, in dem jenes Paradigma sich selbst Einwände vorlegte oder Ausschau nach Stimmen hielte, die die offenbar zur Selbstverständlichkeit geronnene Subjektivitätstheorie produktiv irritieren könnten, sucht man vergeblich. Warum nur? Es wäre höchste Zeit!