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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

806–809

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stump, Eleonore, Gasser, Georg, u. Johannes Grössl[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Göttliches Vorherwissen und menschliche Freiheit. Beiträge aus der aktuellen analytischen Religionsphilosophie.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 372 S. m. 4 Abb. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-17-024154-1.

Rezensent:

Heiko Schulz

Der Band ist seiner institutionellen, personellen und sachlichen Einbindung nach in dem von den Universitäten Innsbruck, München und Regensburg verantworteten Forschungsprojekt Analytic Theology and the Nature of God: Integrating Insights from Science and Philosophy into Theology angesiedelt, das derzeit mit dreijähriger Laufzeit von der John Templeton Foundation gefördert wird. Letztere hat unter anderem die Übersetzung der im Band versammelten Texte sowie deren Drucklegung mitfinanziert. Die Bandherausgeber Georg Gasser und Johannes Grössl sind oder waren (so im Falle Grössls, der inzwischen an die Universität Siegen gewechselt ist) wissenschaftliche Mitarbeiter am katholischen Institut für Christliche Philosophie an der Universität Innsbruck. Beide sind im Blick auf das vorliegende Themenfeld durch einschlägige und durchweg der analytischen Religionsphilosophie nahestehende Publikationen ausgewiesen – hinzuweisen ist vor allem auf Grössls Dissertation, die 2015 unter dem Titel Die Freiheit des Menschen als Risiko Gottes. Der Offene Theismus als Konzeption der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und göttlicher Allwissenheit im Verlag Aschendorff (Münster) erschien. Zusätzlich steht die Publikation des Bandes mit Eleonore Stump unter der Schirmherrschaft einer internationalen Autorität auf dem Gebiet der analytischen sowie der katholisch-thomistischen Religionsphilosophie. Stump fungiert zum einen als Mitherausgeberin, zum anderen hat sie abgesehen von zwei gewichtigen Einzelbeiträgen (147–182; 347–370) ein Vorwort beigesteuert (9–13).
Der Band, dessen einzelne Beiträge, von zwei Ausnahmen abgesehen (Pike; Stump/Kretzmann), zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurden, greift mit der Frage nach dem Verhältnis von göttlichem Vorherwissen und menschlicher Freiheit ein Kernthema der abendländischen Metaphysik qua Ontotheologie auf. Dabei zeigt sich die anglophone Debatte, die der Band mit 14 einschlä-gigen Texten dokumentiert, die zwischen 1965 und 2015 entstanden sind, von exemplarischen mittelalterlichen Zugängen und Lösungsvorschlägen (u. a. Thomas von Aquin und William von Ockham) besonders inspiriert, stellt darüber hinaus aber auch weitgehend traditionsunabhängige Überlegungen zur Diskussion. Gemeinsam ist allen Beiträgen jene leitende Zielvorstellung, die sie für die Aufnahme in einen Band prädestiniert, der sich dem Projekt einer Analytischen Theologie verpflichtet weiß: die Vorstellung einer wechselseitig »gewinnbringende[n] Zusammenarbeit von analytischer Philosophie und systematischer Theologie« (so E. Stump im Vorwort, 10).
Die Hauptlinien der analytischen Debatte der letzten Jahrzehnte führen die Herausgeber in ihrer Einleitung auf fünf basale Theorieansätze zurück, die sie den Rubriken Ockhamismus, Eternalismus, Molinismus, Thomismus und Offener Theismus zuordnen, wobei die Diskussionen der molinistischen (in Anlehnung an L. de Molina, 1525–1600) und thomistischen Konzeptionen in einem Abschnitt zusammengefasst präsentiert werden. Unter den Autoren finden sich neben einigen im deutschen Sprachraum relativ unbekannten auch eine Reihe vertrauter bzw. prominenter Namen wie A. Plantinga, E. Stump und R. Swinburne. Dabei stellt der Band in vier Abschnitten einschlägige, teils affirmative, teils kritische Voten zu den vorgenannten Standpunkten und Theorieansätzen zusammen: Der Ockhamismus wird von N. Pike, M. McCord Adams, J. M. Fischer und A. Plantinga, der Eternalismus von E. Stump und N. Kretzmann, ferner von D. Widerker und L. Zagzebski, der Molinismus von T. Flint, R. M. Adams und W. Hasker, der Thomismus von R. Koons sowie, last but not least, der Offene Theismus von J. R. Lucas, R. Swinburne und E. Stump diskutiert.
Didaktisch originell und dabei heuristisch durchaus zielführend ist die Form der Bandeinleitung (vgl. 15–43): Es handelt sich um einen »Dialog über Gottes Allwissenheit«, der, dramaturgisch konsequent, im studentisch-universitären Milieu angesiedelt wird:
»Nach der Sommerpause treffen sich Hans und Eva zufällig in der Cafeteria der philosophischen Fakultät und trinken zusammen einen Kaffee. Nachdem sie sich über den Verlauf der Sommerferien ausgetauscht haben, wirft Hans plötzlich diese Frage in den Raum: ›Glaubst du, dass Gott schon vor den Sommerferien gewusst hat, dass wir uns heute hier treffen werden?‹ Eva schaut anfangs leicht irritiert, aber dann entwickelt sich ein Dialog, in den bald auch schon die Freunde von Hans und Eva hineingezogen werden.« (15; im Orig. kursiv)
Die Freunde, das sind: Peter, der Skeptiker, sowie – nominell assoziationsplausibel – Wilhelm, der Ockhamist; Ludwig, der Molinist; Anselm, der Eternalist; Thomas, der Thomist, und last but not least Richard, der Anhänger des Offenen Theismus (vgl. 15). Zwischen diesen studentischen Protagonisten und den beiden Initiativakteuren entspinnen sich in der Folge mehrere Gesprächsgänge, in deren Verlauf sich ganz nebenbei auch amouröse Verwicklungen abzeichnen (vgl. 33.43).
Im Ergebnis führt die Diskussion zunächst zu einer präzisen Auffächerung der Prämissen, die das zugrundeliegende Problem konstituieren: »(1) Wenn Gott weiß, dass ich morgen X tun werde, dann habe ich keine Möglichkeit, morgen etwas anderes als X zu tun. (2) Wenn ich nichts anderes als X tun kann, dann bin ich nicht frei in meiner Entscheidung, morgen X zu tun. (3) Gott weiß, dass ich morgen X tun werde. (4) Also: Ich bin […] nicht [frei (sic)] in meiner Entscheidung, morgen X zu tun. (5) Verallgemeinert: Gottes Allwissen (bzw. Vorherwissen) ist nicht mit menschlicher Freiheit vereinbar.« (41) Das mit Satz (5) sich abzeichnende Dilemma (menschliche Freiheit ist immer dann unmöglich, wenn Gott allwissend ist, und umgekehrt) scheint nur vermeidbar, wenn man mindestens eine der Prämissen (1–3) aufgibt. Aber welche? Hier scheiden sich die Geister.
Der Ockhamist, der Molinist und der Eternalist plädieren nach Meinung der Herausgeber je auf ihre Weise für die Bestreitung von Satz (1): Ersterer mit der Begründung, dass Gott nur dann ein Wissen über kontingente menschliche Handlungen generieren kann, wenn diese Handlungen metaphysisch freie Handlungen sind; göttliches Vorherwissen schließt demnach menschliche Freiheit nicht aus, sondern ist im Gegenteil abhängig davon. Anders der Molinist, der dafür argumentiert, dass Gottes Vorherwissen um den Preis des Verlustes seiner göttlichen Vollkommenheit zwar als schöpfungsunabhängig gedacht werden müsse, gleichwohl aber kein von ihm selbst generiertes oder bestimmtes, ergo kein »freies Wissen« (27) sei, das als solches (und das allein) menschliche Freiheit ausschließen würde; vielmehr handle es sich um die »Schnittmenge seines freien Wissens über die Rahmenbedingungen derjenigen Welt, die er zu erschaffen beschließt, und des sogenannten »Mittleren Wissens«, das ist Gottes Wissen über alle Entscheidungen, die mögliche Personen in möglichen Welten treffen würden« (27; Hervorh. H. S.). Als kontra- bzw. präfaktisches Wissen im bezeichneten Sinne determiniere dieses aber die faktischen Entscheidungen des Menschen keineswegs.
Die Herausgeber scheuen sich unnötigerweise, den sogenannten Skeptiker ein explizites Votum gegen eine der drei Prämissen des oben genannten Dilemmas abgeben zu lassen; de facto argumentiert dieser nämlich gleichfalls gegen Prämisse (1). Aus seiner Sicht folgt aus dem hypothetisch unterstellten Vorherwissen Gottes schlicht deshalb nicht die Unmöglichkeit menschlicher Freiheit, weil von der Eigenart innerweltlichen Wissens nicht auf die des göttlichen Wissens zurückgeschlossen werden kann; denn Gott ist »nicht Teil der Welt« (17). Zwar ist, wie der vermeintliche Skeptiker katholisch-theologisch korrekt resümiert, »Gottes Wissen […] nicht vollständig anders, da sonst eine analoge Redeweise […] verunmöglicht wäre« (19; Hervorh. H. S.); aber es ist immerhin »hinreichend anders, sodass von seinem Wissen […] nicht irgendwelche Schlüsse auf die Offenheit oder Geschlossenheit der Zukunft und die menschliche Freiheit gezogen werden können« (ebd.). Eben weil sich dies so verhält, wird man jedoch an dieser Stelle eher gegendas Herausgeberetikett votieren müssen und den beschriebenen Standpunkt zutreffender als Agnostizismus denn als Skepsis be­zeichnen.
Im Unterschied zu seinen ockhamistischen und molinistischen Kollegen bestreitet der Thomist die zweite der das oben genannte Dilemma konstituierenden Prämissen. Diese hat die Annahme zur verschwiegenen Voraussetzung, dass Möglichkeit und Vollzug menschlicher Freiheit durch das Moment der Wahl notwendig bedingt sind. Ebendies leugnet der Thomist. Aus seiner Sicht lässt sich Freiheit »auch ohne alternative Wahlmöglichkeiten« (42) denken bzw. vollziehen: Aus dem Umstand, dass Peter »nichts anderes tun kann als X«, darf also nicht gefolgert werden, dass dieses Tun unfrei, Prämisse (2) mithin wahr ist, so dass die Vorstellung der Allwissenheit Gottes nur um den Preis der Inkaufnahme menschlicher Unfreiheit aufrechterhalten werden kann.
Den Eternalisten ordnen die Herausgeber wie erwähnt der Gruppe derjenigen zu, die Prämisse (1) in Zweifel ziehen. Auch in diesem Fall ist die Zuordnung jedoch unzutreffend: Der Eternalist bestreitet keineswegs (zumindest muss er nicht bestreiten), dass die Freiheit menschlichen Handelns immer dann ausgeschlossen ist, wenn dieses Handeln als Inhalt göttlichen Vorherwissens erscheint; vielmehr leugnet er, dass der Begriff des Vorherwissens sinnvoll auf Gott angewendet werden kann. Bestritten wird also Satz (3): Gott weiß (heute), dass ich morgen X tun werde. Wäre ein solches Wissen nämlich denkbar, dann existierte Gott in der Zeit. Gott existiert aber »außerhalb von Raum und Zeit« (30); seine Existenzform ist die der Ewigkeit im Sinne der »ewige[n] Gegenwart« (ebd.) als eines eigenen, dem Zeitlichen gegenüber irreduziblen »Bezugssystem[s]« (31) von Denken und Sein. Wird dies aber in Rechnung gestellt, dann kann es recht verstanden »keinen Konflikt zwischen Vorherwissen und Freiheit geben« (ebd.); denn es gibt unter dieser Voraussetzung gar kein Vorherwissen im strengen Sinne, da dieses, als solches, bereits »Zeitlichkeit impliziert« (ebd.).
Die Geltung von Prämisse (3) wird auch von den Anhängern des sogenannten Offenen Theismus bestritten, und zwar formal mit ebenderselben These, die zuvor bereits der Eternalist vertreten hatte: Der Begriff des Vorherwissens kann sinnvoll nicht auf Gott angewandt werden. Freilich: Nicht deshalb, weil Gott ewig ist, verfügt er nach Meinung des Offenen Theisten über kein Vorherwissen, sondern weil er im Gegenteil zeitlich ist, besitzt er kein Vorherwissen. Man mag Gott in einem schwachen Sinne allwissend nennen, insofern er »alles weiß, was gewusst werden kann« (43; Hervorh. H. S.). Das (als solches kontingente) Zukünftige fällt jedoch nicht in diese Kategorie; daher kann Gott auch im Blick auf zukünftige mensch-liche Entscheidungen »nur mehr oder weniger zutreffende Schätzungen […] abgeben« (42), verfügt indessen über keinerlei Vorherwissen im strengen Sinne. Eben deshalb aber stehen Allwissenheit Gottes und menschliche Freiheit auch nicht im Widerspruch zu-einander.
E. Stump resümiert mit Recht, dass die Beiträge des Bandes im Ergebnis zwar letztlich »keinen Konsens über den richtigen Zugang« (12) zum Problem bzw. dessen Lösung erkennen lassen, ein Fortschritt in der Diskussion aber immerhin insoweit erreicht sei, als »bestimmte inadäquate und kurzsichtige Ansichten« (ebd.), etwa über die vermeintliche Inkompatibilität von Ewigkeit und Personalität Gottes, mittlerweile als überwunden gelten können. Als Dokument eines nach wie vor bestehenden Dissenses bei gleichzeitiger Einsicht in prinzipiell überwindbare bzw. bereits überwundene Kurzschlüsse in der bisherigen Debatte ist die Publikation des vorliegenden Bandes zumindest unter der Voraussetzung ein ausgesprochen begrüßenswertes Unternehmen, dass dieser eine sachlich substantielle und für die Förderung des philosophisch-theologischen Dialogs fruchtbare, wenn nicht paradigmatische Problemstellung behandelt. Und diese Voraussetzung ist hier zweifellos erfüllt. Hinzu kommt, dass die weit verzweigte und hoch spezialisierte Diskussion im angelsächsischen Sprachraum inzwischen kaum noch übersehbar ist, innerhalb der deutschsprachigen Forschung hingegen bislang eher unzureichend dokumentiert und allenfalls marginal rezipiert wurde.
Vor diesem Hintergrund kann die vorliegende (Text- und) Autorenauswahl, die eine Mischung aus etablierten und jüngeren Wortmeldungen bietet, durchaus als gelungen gelten, auch wenn man darüber streiten mag, ob der eine oder andere Autor nicht zusätzlich hätte berücksichtigt werden können bzw. müssen (z. B. A. Freddoso, D. Hunt, W. Lane Craig, B. Leftow et al.).
Was die Übersetzungen angeht, so sind diese durchweg stilsicher und gut lesbar. Leider aber wurde versäumt, dem Band eine gründliche Schlussredaktion angedeihen zu lassen, denn er weist in der vorliegenden Druckfassung zahlreiche Fehler auf (12.28.32 f.34.36 u. passim). Außerdem vermisst der Leser abgesehen (zumindest) vom Sachregister basale Informationen zu den abgedruckten Autoren. Ein klarer Nachteil der gewählten Einleitungsform liegt ferner darin, dass die Autoren- und Textauswahl nicht eigens begründet wird bzw. werden kann; kompensierend hätten hier zweifellos Hinweise auf alternative bzw. weiterführende Literatur am Ende des Bandes wirken können, doch leider fehlen diese ebenfalls.
Eine Abschlussbemerkung in systematischer Hinsicht: Gesetzt, Satz (4) des oben genannten Dilemmas (»ich bin nicht frei in meiner Entscheidung, morgen X zu tun«) trifft zu, und zwar als logische Schlussfolgerung aus den Prämissen (1) bis (3). Könnte meine Überzeugung, dass sich dies so verhält, irgendeinen begründeten Unterschied im Blick auf den morgigen Vollzug meiner Entscheidung für X (statt für Y) oder für Y (statt für X) nach sich ziehen? Sicher nicht. Was also ist von einer Metaphysik zu halten, die »keinen Unterschied machen« (W. James) kann?