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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

804–806

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Thomas M., u. Annette Pitschmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch.

Verlag:

Stuttgart u. a.: Verlag J. B. Metzler 2014. V, 380 S. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-476-02366-7.

Rezensent:

Michael Domsgen

Um es gleich vorweg zu sagen: Das vorliegende Handbuch bietet nicht nur in seinem interdisziplinären, sondern auch in seinem konzeptionellen Zugriff einen anregenden und gewinnbringenden Überblick zur Erfassung und Beschreibung religiöser Transformationsprozesse der Moderne. Dabei wählen die Herausgeber mit »Religion« und »Säkularisierung« im Titel bewusst zwei »problematische« Begriffe, die für »nicht einschlägig bestimmbare Konzepte« stehen und zugleich »asymmetrisch« (1) erscheinen. Ihnen geht es darum, neben der Kontextualität beider Termini deutlich zu machen, dass »deren Bedeutung der Dynamik anhaltender Diskurse unterliegt, während sie eben diese Diskurse zugleich strukturieren« (2). Zugleich gehen sie davon aus, dass »die Leitkategorien von ›religiös‹ und ›säkular‹ im Sinne induktiv ermittelter Arbeitshypothesen dazu geeignet sind, neue Erkenntnisse einerseits über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft, anderseits über die Beschaffenheit gegenwärtiger Gesellschaften zu generieren« (ebd.).
Daraus ergibt sich der Versuch zu komplementären Perspektiven. Kontroversen im Religions- und Säkularisierungsbegriff (z. B. hinsichtlich funktionalistischer und substanzialistischer Bestimmungsversuche für Religion sowie einer deskriptiv-quantitativen und genealogisch-qualitativen Verwendung des Säkularisierungskonzeptes) werden nicht zu entscheiden versucht, sondern dahingehend ausgewertet, »inwieweit sie über die Struktur des Phänomens Aufschluss« (ebd.) geben. Auf diese Weise gelingt es, die »Si­tuation der Religion in der Moderne« zu beleuchten, indem »ihre dialektische Beziehung zum Phänomen der Säkularisierung in den Blick« (3) genommen wird. Das Verhältnis von Religion und Säkularisierung wird dabei innerhalb des Bandes aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und analysiert.
Im ersten Teil (7–171) werden unter dem Leitbegriff »Konzepte« Positionen vorgestellt, die die Säkularisierungsdebatte in Vergangenheit und Gegenwart maßgeblich geprägt haben bzw. prägen. Einschlägige Autoren rekonstruieren hier die Ansätze von Durkheim, Weber, Habermas, Hegel, Troeltsch, Löwith, Blumenberg, Berger, Luckmann, Rousseau, Luhmann, James, Dewey, Casanova, Taylor, Riesebroth, Pollack, Eisenstadt in ihren jeweiligen ge­schichtlichen Hintergründen. Sehr schön tritt in den jeweiligen Perspektiven die Bedeutung von Positionalität und erkenntnisleitendem Interesse hervor, die wiederum stark durch kontextuelle Herausforderungen bestimmt werden. Auf diese Weise eröffnet sich ein differenziertes Bild für die Möglichkeiten zur Beschreibung der Situation von Religion in der Moderne. Dass dabei Vollständigkeit nicht erreicht werden kann, ist völlig klar. Gleichwohl hätten kriteriologische Hinweise zur Auswahl der Darstellung sicherlich gutgetan. Doch auch so gelingt es zweifelsohne, »ein Bewusstsein für die vielfältigen Möglichkeiten« zu wecken, »die Situation der Religion in der Moderne zu beschreiben« (3). Gleiches gilt auch für den nächsten Hauptteil unter der Überschrift »Kategorien« (173–289). Hier sind Beiträge versammelt, die die Situation aus der Perspektive eines Leitbegriffs systematisch vertiefend analysieren. Wie die Herausgeber einführend erwähnen, wurden dabei Schlagworte gewählt, »die im Kontext der Säkularisierung in den Vordergrund treten […], dabei eine spezifische Prägung erfahren« haben, »auf das Phänomen der Säkularisierung« wirken und so »geeignete Kategorien zu seiner Deutung« (3) darstellen. Unter dieser Maßgabe finden sich Ausführungen zu den Lemmata »Das Böse«, »Fortschritt«, »Freiheit«, »Fundamentalismus«, »Das Heilige«, »Kritik«, »Moderne«, »Moral«, »Neutralisierung/Neutralität«, »Öffentlichkeit«, »Pluralismus«, »Rationalismus«, »Religiosi tät«, »Souveränität«, »Toleranz«, »Welt« und »Werte«. Eine solche Aufstellung provoziert – ähnlich wie im ersten Teil – die Frage nach möglichen weiteren Kategorien sowie – damit korrespondierend – zur inneren Systematik, was leider nicht näher entfaltet wird. Zu­gleich wird deutlich, wie fruchtbar ein solcher Zugriff ist. Säkularisierung wird hier letztlich noch einmal in einer inhaltlich profilierenden Weise durchbuchstabiert. Zugleich wird deutlich, welche Implika­tionen in den jeweiligen Disziplinen damit verbunden sind.
Das hier angedeutete Programm wird schließlich im dritten Hauptteil verändert weitergeführt, indem »Konflikte« (»Glauben und Wissen«, »Religion und Wissenschaft«, »Religion und Menschenrechte«, »Religion und säkularer Rechtsstaat«, »Säkularisierung und Weltgesellschaft«, »Säkularisierung und Weltreligionen«) dargestellt und diskutiert werden (291–369), »die für die Situation einer säkularen Welt symptomatisch sind« (3). Sehr deutlich wird hier noch einmal, wie unterschiedlich die Rahmenbedingungen sind, in denen religiöse und säkulare Tendenzen zu verorten sind. Insofern ist der Blick auf die spezifischen Rahmenbedingungen unerlässlich, um Religion und Säkularisierung angemessen verstehen zu können. Die Vielfalt der Phänomene zwingt zu einer kritischen Überprüfung gängiger Theoreme.
Insgesamt gesehen bietet das Handbuch eine gelungene und profunde Auseinandersetzung mit den beschriebenen Themenkomplexen. Hier wird nicht nur ein Diskussionsstand erfasst, sondern in hilfreicher Weise dazu angeregt, die einzelnen Theorieansätze in sorgsam abwägender Weise zur Kenntnis zu nehmen, zu diskutieren und so zu weiterführenden Perspektiven hinsichtlich religiöser und säkularer Entwicklungstendenzen in gegenwärtigen Gesellschaften zu kommen. Dazu stellt das Handbuch eine Fülle von Material bereit, die bisher nicht auf einen Blick zu finden war.