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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

802–804

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scheier, Claus-Artur

Titel/Untertitel:

Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2016. 173 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7873-2998-4.

Rezensent:

Werner Stegmaier

Im Angesicht von Luhmanns schätzungsweise 15.000 Seiten veröffentlichter Schriften ist Claus-Artur Scheiers Buch dazu mit 173 Seiten (davon 47 S. Anhang) wohltuend knapp. Es handelt sich um hochverdichtete Vorlesungsmanuskripte, jedoch nicht um eine Einführungsschrift. S., Jahrgang 1942, mit medizinischer Approbation und philosophischer Promotion, wie wenige bewandert und durch Schriften ausgewiesen in der ganzen europäischen Philosophie, setzt auch eine ziemlich gute Luhmann-Kenntnis voraus, kommt sofort zur Sache und geht ihr auf den Grund. Er trägt, ohne Abwägung von Gegenargumenten und -positionen, eine Art Thesenkette vor.
Seine Dissertation zur »Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der Neueren Philosophie. Von Descartes zu Hegel« musste ihn eines Tages zu Luhmanns »Theorie selbstreferenzieller Systeme« führen: »kein philosophischer Glücksfall, aber ein Glücksfall für die Philosophie« (9). S. nimmt Luhmann, der kein Philosoph sein wollte, als Philosophen ernst, wie es wenige versucht haben, etwa Robert Spaemann, als er Luhmann 1989 bei der Entgegennahme des Hegel-Preises zu loben hatte.
Wie allwissend und allmächtig Luhmann von S. eingeschätzt wird, lässt sein Titel »Luhmanns Schatten« wissen, der sichtlich auf Nietzsches Rede von den »Schatten Gottes« anspielt. Nietzsche hatte in der Fröhlichen Wissenschaft, Nr. 109, geschrieben: »Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln?« Alte Begrifflichkeiten verdunkeln neue Erfahrungen, wenn sie sie nicht ganz verhindern. Nun verdunkeln also Luhmanns Begrifflichkeiten die »Funktion der Philosophie in der medialen Moderne«?
Die »mediale Moderne« hat nach S. die »industrielle Moderne« abgelöst, und Luhmann habe ihre »erste umfassende Bestandsaufnahme« geliefert. Sie sei ein »geschichtliches Phänomen-Agglomerat«, das sich nicht im Hegelschen Sinn begreifen, sondern mit Lyotard nur »in Gestalt von Kartographien« »charakterisieren« oder mit Foucault »›archäologisch‹ nachzeichnen« lasse (14), also zugleich eine »Postmoderne«. Luhmann, der historisch eine segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung der Gesellschaft unterschied, hielt diesen Begriff nicht für theorietauglich und erwartete nun nicht mehr viel von der Philosophie. Stattdessen machte er mit seinem ganzen Werk (ausdrücklich sprach er davon nur im Blick auf die »Moral reflektierende Ethik«) ein »Übernahmeangebot« an die Philosophie – und S. kontert es mit einem eigenen. Er greift Luhmanns Theorie an ihrer (vermeintlichen) theoretischen Spitze an, dem Anspruch auf eine »Supertheorie«, deren Begriff Luhmann, was oft übersehen und auch von S. nicht erwähnt wird, zunächst einführte, um der Autoimmunisierung der Moral eine Theorie entgegenzusetzen, die es mit ihr aufnehmen kann. Er meint keine Theorie, die alle anderen überragt, sondern eine, die sich selbst einbeziehen und sich dadurch gegen Kritik von außen immunisieren kann.
S. spielt in seiner »Orientierung«, der ersten Hälfte des Büchleins, noch einmal die üblichen Vorwürfe gegen Luhmann durch, seine Theorie sei »mit der eigenen Autopoiesis beschäftigt«, unhis­torisch und positivistisch (35), und führt auch wieder die Unerreichbarkeit des (ganz) Anderen im Sinn von Levinas und Derrida gegen sie ins Feld (36). Doch Luhmanns Theorie ist mit ihrer Leitdifferenz von System und Umwelt oder Selbstbezug und Fremdbezug, die sich evolutionär ausdifferenziert, über all das schon hinaus (vgl. Vf., Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin/Boston 2016). So kommt man ihm philosophisch nicht bei. S. versucht denn auch nicht, Luhmann wirklich zu opponieren oder ihn gar zu widerlegen, erklärt seinen Theorieentwurf lediglich für »eigentümlich unbefriedigend« und beruft sich dabei auf Luhmanns eigenes »ironisches Unbehagen« (66).
Sein eigenes Übernahmeangebot startet er unter der Überschrift »Funktionalisierung« (Luhmann sprach gerne von »Funktionsorientierung«). Er rekonstruiert Schritt für Schritt Luhmanns Anschlüsse, insbesondere an die operationale Logik George Spencer Browns, und seine leitenden Begriffe und -unterscheidungen mittels Versatzstücken aus dem Ganzen der europäischen Philosophie, darunter auch selbstkonstruierten, und gibt sie nicht durchgehend, aber immer wieder in formelhafter Notation wieder. Er fokussiert dabei auf den formalen Bau oder, wenn man so will, die Logik der Systemtheorie, und lässt, was sie inhaltlich erschließt, also die Kommunikation der Gesellschaft, ihre Funktionssysteme, deren evolutionäre Herausbildung und Interpretation, wie Luhmann das nennt, beiseite. Luhmanns zahlreiche eigene Anschlüsse an die Philosophie nutzt er, thematisiert sie aber ebenfalls nicht. Man lernt: All das, was Luhmann in der theoretischen Hauptsache sagt, hat auf ihre Weise auch schon »die« Philosophie gesagt, die S. jeweils in Gestalt großer Namen von Heraklit bis Quine, Sartre und Derrida aufruft, vor allem aber, und er liegt in der Tat am nächsten, Hegel. Man kann, will S. zeigen, Luhmann aus der Fülle der Philosophie entgegnen, und wenn nicht aus der Tradition, so doch mit eigenen Beiträgen, die vor allem in jener formelhaften Notation bestehen, die klare logische Verkettungen von Luhmanns zuweilen kontingent anmutenden Begrifflichkeiten denkbar machen. S. führt aber auch eigene Begrifflichkeiten ein wie die des »Differenzfelds«, für die Luhmann mehr und mehr zum Stichwortgeber und Zitatenlieferanten wird. Die neuen Begrifflichkeiten Luhmanns, heißt das im Ergebnis wohl – ein klares Fazit zieht S. nicht –, verdunkeln die alten Erfahrungen der Philosophie.
S. lässt dabei die sich die Systemtheorie integrierende Philosophie als Einheit auftreten, was sie ja wohl kaum war und nun erst als Unterfutter der Systemtheorie wird. Man kann, scheint das Büchlein sagen zu wollen, auch nach dem Übernahmeangebot durch Luhmanns soziologische Systemtheorie bei der Philosophie bleiben – wenn man sie mit deren Hilfe selbst als konsistente, kohärente und konsequente Theorie rekonstruiert. Die Einheitsfrage als solche stellt S. jedoch nicht, weder für Luhmanns Systemtheorie noch für die europäische Philosophie, vielleicht, weil er sie für seine eigene Philosophie schon beantwortet hat. In diesem Buch geht er lediglich Stichworten entlang wie Differenz, Selbstreferenz, Struktur, Zeichen, Zeit, Oszillation, Existenz, Spiel. Anker der Einheit bleibt so Luhmanns Theorie selbst, dem es seinerseits bis zuletzt, bis zu seiner großen Summe Die Gesellschaft der Gesellschaft, nicht gelang, sie zu dokumentieren, wohl weil es bei einer evolutionären Theorie, wie er sie im Auge hatte, nicht darauf an­kommt. Einer der wunden Punkte ist dennoch Luhmanns grundlegende Unterscheidung einer Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension, für die er eingestandenermaßen keine »vernünftige Begründung« hatte und die er lediglich »routinemäßig« be­nutzte (Einführung in die Systemtheorie, 238 f.). Hier kommt S., der sie auf die nicht weniger schwierige Unterscheidung von basaler Selbstreferenz, Reflexivität und (expliziter) Reflexion abzubilden versucht (79–82), leider auch nicht weiter. Und er führt seine formelhaft notierten Definitionsketten ebenfalls nicht zu einer ge­schlossenen Theorie zusammen.
Durch den ansatzweisen Versuch dazu tritt gleichwohl die elementare Bedeutung der Evolutionstheorie bzw. ihre Leitunterscheidung von Variation und Selektion für Luhmanns System-theorie zurück. Danach kann das Ganze der Welt oder des Welt-bewusstseins oder der Weltorientierung sich nur in laufend va­riierten Selektionen zeigen, die Beobachtungssysteme in ihrer jeweiligen Umwelt vornehmen, ein Gedanke, den erst Nietzsche und er gegen die ganze ihm vorausliegende Tradition sich zu denken traute. Und Luhmann setzte dann gegenüber der »alteuropäischen Denkweise« auf »Konstruktionsbewusstsein« und »Entscheidungsbewusstsein«. Damit schloss er seine Einführung in die Sys­temtheorie: Alle Unterscheidungen, kann man heute sagen, sind auch Entscheidungen, zum einen, weil man sie und nicht andere wählt, zum anderen, weil man sich in ihrem Gebrauch jeweils für eine der beiden Seiten der Unterscheidung und nicht für die andere (z. B. für wahr und nicht für falsch, für gerecht und nicht für ungerecht) entscheidet. Damit vor allem dürfte Luhmann die Philosophie aus einem noch immer anhaltenden dogmatischen Schlummer erweckt haben, hier dürfte die Systemtheorie, statt Schatten über die gegenwärtige Philosophie zu werfen, die Schatten des alten Gottes der Philosophie weiter lichten.