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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

796–798

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Sachs, Klaus-Jürgen

Titel/Untertitel:

Musiklehre im Studium der Artes. Die »Musica« (Köln 1507) des Johannes Cochlaeus. 2 Bde.

Verlag:

Hildesheim u. a.: Verlag Georg Olms (Olms Weidmann) 2015. XXII, 466 S. = Studien zur Geschichte der Musiktheorie, 11. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-3-487-15344-5.

Rezensent:

Ute Poetzsch

Seit 2001 gibt das Staatliche Institut für Musikforschung (eine Einrichtung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) die »Studien zur Geschichte der Musiktheorie« heraus, innerhalb derer die musikbezogenen Schriften des Johannes Cochlaeus (1479–1552) in zwei Teilbänden erschienen sind. Klaus-Jürgen Sachs war Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Erlangen und ist einer der besten Kenner der Quellen zu Musiktheorie und Kompositionslehre des 13. bis 15./16. Jh.s. In Band 2 der von ihm mitbegründeten Reihe hat er bereits drei anonyme Traktate aus dem 15. Jh. zu »contrapunctus« und »compositio«, die handschriftlich in der Bischöflichen Bibliothek Regensburg aufbewahrt werden, vorgelegt. Die Edition, Übersetzung und Einordnung der »Musica« setzt nun das Projekt der Erschließung mittelalterlicher Quellen zu Musikanschauung und -ausbildung fort.
Als Akademiker war Johannes Cochlaeus zwar ein Gelehrter, aber kein Musikgelehrter. Bekannt ist er vorrangig als Gegner der lutherischen Reformation, die er in diversen Publikationen aktiv bekämpfte. Nur wenige seiner Veröffentlichungen widmen sich der Musik als Bestandteil des Quadriviums der Artes. Diese Bücher erschienen in dem Zeitraum, in dem Cochlaeus an der Kölner Universität lehrte und danach Lehrer und Rektor der Nürnberger Lorenzschule war. Der aus Wendelstein bei Nürnberg stammende Johannes Dobeneck immatrikulierte sich 1504 an der Kölner Universität, wurde 1505 Baccalaureus und 1507 Magister artium. Von 1510 bis 1515 wirkte er in Nürnberg. Durch die in dieser Zeit engen Beziehungen zu humanistischen Gelehrten, insbesondere zu Willibald Pirckheimer in Nürnberg, wurde ihm der von seinem Heimatort abgeleitete latinisierte Name beigelegt. Die Musikschriften Cochlaeus’ entstanden für studentische Adressaten, später für den U nterricht an der Lateinschule, sind also auf die Bedürfnisse der jeweiligen Lehrpraxis zugeschnitten. Zwei zusammenfassende, »Exercitia« genannte und separat gedruckte Texte zu Musiklehre und Musikpraxis sind der »Musica« beigegeben und verweisen nochmals auf den pädagogischen Kontext.
Grundlage der Edition ist die erste mit dem Autornamen versehene, in Köln gedruckte Ausgabe aus dem Jahr 1507, die in mehreren Exemplaren erhalten ist, allerdings nicht immer in allen ihren Teilen. Dieser Ausgabe gingen zwei anonym erschienene »Vorläufer« voraus, 1515 folgte eine weitere. Die ergänzenden, erst neuerdings wahrgenommenen »Exercitia« sind in verschiedene Exemplare der Auflage von 1507 eingebunden. Das zuerst 1511 erschienene Lehrbuch »Tetrachordum musices« für den Gebrauch in der Lateinschule fußt inhaltlich auf der »Musica« und wurde ebenfalls mehrmals neu aufgelegt.
Der eigentlichen Edition sind knappe und höchst instruktive ein- und hinführende Kapitel vorangestellt. Im ersten Kapitel zu den historischen Grundlagen wird die Stellung der Musik innerhalb der Artes bis in das 16. Jh. hinein beleuchtet, wobei Forschungstraditionen und -meinungen kritisch gewürdigt und teilweise auch widerlegt werden. Damit ist das Kapitel als fundierter Beitrag zur Diskussion um eine in der Forschungsliteratur unterstellte Schwächung der Musik als mathematischer Ars zugunsten der praktischen Ausführung von Musik zu lesen, denn aus den Schriften des Cochlaeus lässt sich solches nicht ableiten. Seine »Mu­sica« ist eine Musiklehre im Sinne einer theoretischen Einführung; sie ist nicht als Anleitung zum Musizieren zu verstehen.
Die Biographie des Cochlaeus wird auf seine Betätigung als Lehrender von Musik bis um 1515 fokussiert, denn in seinem späteren Leben spielte die theoretische Beschäftigung mit Musik keine Rolle mehr. Abschließend wird ein Porträt des Cochlaeus als Lehrer der Ars musica skizziert. Dass er eine gewisse musikpraktische Kompetenz besessen haben muss, wird durch Äußerungen von Zeitgenossen deutlich, die berichten, dass er klangvoll singen konnte.
Erklärte Absicht von S.’ Untersuchung ist es, sich nicht auf Spekulationen einzulassen und nur nachvollziehbare Fakten mitzuteilen und Leerstellen damit auch zu benennen. Dass bei diesem Verfahren eine Fülle neuer Fragen aufgeworfen wird und Desiderate deutlich werden, liegt auf der Hand und ist eine besondere Qualität der Darstellung. So etwa wird gar nicht erst versucht, die Textstellen, für die sich keine Referenzen nachweisen lassen – die »Musica« basiert auf zeitgenössischen Quellen ab ungefähr 1490 und dokumentiert damit den neuesten Stand der Wissenschaft der Zeit –, Cochlaeus selbst zuzuschreiben. Ein Nachweis wird weiteren Forschungen vorbehalten bleiben müssen. Die Besprechung der Texte, wobei ein eigenes Kapitel über die Abhängigkeit des »Tetrachordums« von der »Musica« nicht fehlt, greift den Kommentaren nicht vor, die knapp den Inhalt der einzelnen Kapitel resümieren und in seinen Kontexten erfassen, sondern ist als Einführung in das Werk zu verstehen. Überhaupt sind die einzelnen Kapitel und Abschnitte des Buches differenziert und vielfältig aufeinander bezogen komponiert.
Verdienstvoll ist die Edition der in einigen Exemplaren enthaltenen Glossen. Die wichtigsten Glossen, die vollständig wiedergegeben werden, stammen aus dem in der Bibliothèque Royale in Brüssel aufbewahrten Exemplar von dem für die Entwicklung des musiktheoretischen Denkens höchst bedeutenden Heinrich Glarean (1488–1563), der von 1507 bis 1510 in Köln studiert und nach eigener Aussage bei Cochlaeus Musica gehört hat.
Die Editionsgrundsätze werden knapp und übersichtlich erläutert ebenso wie die Prinzipien der Übersetzung. Text und Übersetzung sind synoptisch gegenübergestellt, die Orientierung wird gewährleistet durch die Nummerierung der Sätze innerhalb der einzelnen Abschnitte. Notenbeispiele, wie auch Tabellen und graphische Darstellungen, die sich umstandslos erschließen, sind im Faksimile wiedergegeben, andere werden transkribiert. Unterhalb der Einzelabschnitte gibt es den Stellenkommentar und Einzelanmerkungen. Ein zusammenhängender Kommentar, der auf den Inhalt der Kapitel und Unterabschnitte bezogen ist, ist dem edierten Text nachgestellt und wird eingeleitet von einer Einführung in die Lehre der Musica bei Cochlaeus und seinem Umfeld.
Die edierten Glossen des Glarean, bei denen es sich sowohl um Interlinear- als auch um Marginalglossen handelt, werden mittels eines ausgeklügelten Auszeichnungssystems so wiedergegeben, dass ihre Position im Haupttext erkennbar ist. Wie in der Edition des Haupttextes gibt es auch hier, allerdings in größerem Maße, Klarstellungen und Verweise in eckigen Klammern wie auch je nach Notwendigkeit Kurzbeschreibungen des Inhalts oder kleine Kommentare, denn die Glossen werden nicht übersetzt. Die Glossen aus anderen Exemplaren, die inhaltlich von denen Glareans abweichen, werden in einem eigenen Abschnitt mitgeteilt.
Beigegeben sind Übersichten zur Genese des Textes von 1507 im Vergleich zum späteren »Tetrachordum musices«, das auch bei den Synopsen der in den verschiedenen Ausgaben enthaltenen Notenbeispiele und Diagramme berücksichtigt wird, und ein Verzeichnis der Choral-Incipits. Erschlossen wird die »Musica« zusätzlich durch ein Register der von Cochlaeus verwendeten Termini und Namen.
Ganz sicher greifen die Reihenherausgeber nicht zu weit, wenn sie in ihrem Vorwort zum vorliegenden Band davon ausgehen, dass die Edition und die Interpretationsansätze bietende Auswertung der Quellen »zu einer Neubewertung der ›Musiklehre im Studium der Artes‹« führen dürfte.