Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

793–795

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Braungart, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Literatur und Religion in der Moderne. Studien.

Verlag:

Paderborn: Wilhelm Fink 2016. 555 S. m. 6 Abb. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-7705-5949-7.

Rezensent:

Matthias Luserke-Jaqui

Wolfgang Braungart wirkt als Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld. Sein Buch vereint seine zahlreichen Studien zum Thema. Eigentlich müsste der Titel richtig lauten »Literatur der Moderne als Religion«, denn es geht um die Sinnerzeugungskompetenz von Literatur. Literatur wird als »eine symbolische Form des Machens von Religion« (23) gelesen. Der Band wendet sich nicht an ein allgemeines Publikum, auch wenn der Titel dies suggerieren mag, sondern ist ein wissenschaftliches Werk, das mit viel Liebe zum Detail versucht, einen Diskurs abzubilden und in die Literaturwissenschaft einzubringen, der sich seit Lessing mehr und mehr verselbständigt und in andere Disziplinen wie in die Theologie, Religionsphilosophie, Religionssoziologie, Homiletik oder Liturgik usw. ausgewandert ist.
Nach einer Einleitung, in der die Grundlinien des Buchs skizziert und die kritischen Begriffe geklärt werden (übrigens in seiner Art vorbildlich für wissenschaftlich-diskursive Transparenz!), wird im 1. Teil die anthropologische Wende im 18. Jh. untersucht, die mit und nach Lessing die Bedeutung des Menschen in der Literatur und der Theologie fokussiert. Dass sich diese Linie bis in die Kunst des 20. Jh.s hinein ziehen lässt, zeigt das 7. Kapitel eindrucksvoll. Nathan der Weise und Minna von Barnhelm sind die Referenztexte aus der Literatur, die vorgestellt werden. Daran schließt eine Untersuchung von Schillers Tragödie Jungfrau von Orleans an. In den so bezeichneten Schlussthesen dazu wird Johannas Wunder als das ihrer Subjektwerdung bezeichnet. Eine Interpretation von Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe folgt, hier wird auf Dorothee Sölles konzeptuelle Entwürfe zur ›Realisation‹ zurückgegriffen und Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame mit Girards Theorie des Sündenbocks quergelesen.
Der 2. Teil widmet sich dem Zusammenhang von Kunst und Religion. Das muss historisch gesehen natürlich in der Frühromantik bei Wackenroder/Tieck beginnen, Novalis’ nicht unproblematischer Essay Die Christenheit oder Europa folgt, Untersuchungen zu Rilkes Theo-Poetik schließen sich an, Stefan George fehlt nicht, Georg Trakl und Ruth Schaumann werden exponiert, um bei Botho Strauß zu enden.
Der 3. Teil wendet sich der ästhetischen Geselligkeit zu, was überraschen mag, sich aber als unverzichtbar erweist, wenn man bedenkt – und B. trägt dem Rechnung –, dass Sinnerzeugung durch Literatur auch und gerade von ihrer Performativität abhängt. Der Hinweis auf Mt 18,20 wäre zielführend gewesen, um noch stärker die Bedeutung »religiöser Geselligkeit« hervorzuheben.
Im 4. und letzten Teil geht B. der Frage nach, ob nicht am Ende Kunst (das Terrain der Literatur wird also verlassen) das leistet, was institutionalisierte Religion nicht leistet oder auch nicht leisten kann. Der Reflexion über die Epiphanie des Schönen und die Engelstheorien hätte man allerdings mehr Raum gewünscht.
B. ist ein ausgewiesener Kenner der Literatur der Klassischen Moderne. Deshalb verwundert es auch nicht, dass sich sein Hauptinteresse auf diesen Zeitabschnitt richtet. Den Begriff der Moderne definiert B. im Sinne einer Makroepoche als die Zeit seit dem 18. Jh. Dass dies in der Wissenschaft durchaus strittig diskutiert wird, gesteht er zu, aber es ist sein gutes Recht, diese Definition in diesem Sinne vorzunehmen. Wie überhaupt das Buch einen spürbar offenen Geist atmet, alle Festlegungen, oder nahezu alle, werden reflektiert und kommentiert. Allerdings gibt es in den Fußnoten denn doch den einen oder anderen Überschuss an Literaturverweisen, bestreut mit (vor allem) Lob und Tadel. Das ist gelegentlich zu viel des Guten.
Die theoretische Reflexion ist nicht das Anliegen dieser Studien, sondern vielmehr die Sichtbarmachung, die ›Menschwerdung‹ des Textes, um es soteriologisch auszudrücken (zu diesen hermeneutischen und methodologischen Fragen vgl. meine Sechs Bemerkungen über die Deutung von literarischen und religiösen Texten, in: »Ein Nachtigall die waget. Luther und die Literatur«, Tübingen, Basel 2016, 29–32). Hier fehlt aber ein, wie ich meine, wichtiges Buch der Theologie, ich spreche von Oswald Bayers theologischer Ästhetik Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie (Tübingen 1999). Das könnte an dem einen oder anderen Punkt von B.s Studien weiterführen.
Nur an zwei Stellen mache ich einen Einspruch geltend. Einmal geht es um ein in der Literaturwissenschaft hartnäckiges Stereotyp, das wie eine Monstranz umhergetragen wird, wonach das subjektive Sprechen in der deutschen Literatur mit Johann Christian Günthers Lyrik im frühen 18. Jh. beginne. Aber ich meine, gerade bei einem solchen Thema wie dem in diesen Studien vorgestellten muss man an einen Paul Gerhardt und viele andere – oder noch weiter zurückgehend bis hin zu reformatorischen Bekenntnis-texten in Liedform – erinnern: Ohne das Ich-Sprechen ist diese religiöse Lyrik schlichtweg undenkbar. Da hätte ich mir ein wenig mehr literaturhistorische Präzision und weniger Verpflichtung gegenüber der Höhenkammtradition der Literaturgeschichte ge­wünscht. Der zweite Einwand bezieht sich auf die These von der Entdeckung der Emotionalität in der Literatur und Literaturwissenschaft. Diese hätte ihr Korrektiv darin gefunden, sich der bedeutendsten poetologischen Formel des Abendlandes zuzuwenden. In des Aristoteles Poetik wird die Funktion von theatraler Kunst und Literatur gerade damit begründet, dass sie emotionale Erregungszustände hervorbringen und davon »reinigen« könne. Das ist die Katharsis, die wiederum ohne Bezug auf einen affekt-logischen Bezugsgrund unsinnig ist. Und es gehört auch zu den Fehlurteilen unseres Faches, dass die Literatur, vornehmlich ab dem 18. Jh., jegliche Emotion neutralisiere. Die zivilisatorische, also affektbändigende Funktion von Literatur ist seit je Definiens von Literatur (vgl. mein Buch Literatur und Leidenschaft [1995], worin ich diesen Zusammenhang ausführlich untersucht habe). Unbehagen er­zeugt die Behauptung, die »›Wahrheit‹ von Religion« (23) sei der Mensch, wie B. schreibt, und stellt damit eine Gelenkstelle zur »Wahrheit« der Kunst her, bei der das zutreffen mag. Ist aber nicht die Wahrheit der Religion Gott? Wenn man diese analogische Schieflage akzeptiert, wird die Argumentation schwierig.
Was für einen Kunstbegriff verwendet B.? Das bleibt unscharf, aber neben der Literatur wird nahezu ausschließlich auf die Bildende Kunst verwiesen. Musik, Theater, Tanz gehen unter. Vor allem bei der Musik hätte B. starke Belege für seine Thesen ge-funden. Wer wollte beispielsweise Mozarts Krönungsmesse oder Requiem religiöse und ästhetische Schönheit abstreiten? Zweifel habe ich auch an der Behauptung, dass es die »Heiterkeit« (39) in der deutschen Literatur bis heute so schwer habe. Was ist mit Morgenstern, Karl Valentin, mit Ernst Jandl oder Eckhard Henscheid – pars pro toto? Das Fehlen der Bedeutung der Psychoanalyse für die Sinnerzeugungsperformanz der modernen Literatur wäre zu bemängeln. Und schließlich: schade, dass ein Namenregister fehlt. Aber das sind wirklich Kleinigkeiten. Denn die große Dimension hat B. eingefangen, er versteht sein Buch »als eine offene Tür der Literaturwissenschaft zur theologischen Ästhetik« (47), und er wirbt für »die epiphanische Gegenwärtigkeit einer Sinnfülle im Moment der ästhetischen Erfahrung des Schönen« (50). Natürlich fallen einem sofort die Gegenpositionen ein in der Literatur, die Haltung zur Manifestation der Sinnleere oder, in der Literatur nach 1945, der Sinnfreiheit, flankiert durch entsprechende philosophische poststrukturalistische und postmoderne Theoreme. Dworkins Religion ohne Gott (2014) hätte man diskutieren können, aber B. muss das ausblenden, um bei seinem Thema zu bleiben, und zeigt dadurch in beeindruckender Weise, dass die Literaturwissenschaft und die Theologie eingeladen sind, in diesen Raum des Dialogs einzutreten.
Zuletzt noch ein Wort zum Buchumschlag, der von B. selbst entworfen ist. Er stellt ein monochromes Blau vor, geometrisch dargestellt als Kreis im Quadrat. Wie löst sich diese Yves Klein-Anspielung auf? Da hätte man sich durchaus eine Meditation über Farbe und Figur gewünscht, wenn es schon so intensiv um das symbolsprachliche Sprechen in Kunst und Religion geht. Denn einfach zu mutmaßen, das Runde muss ins Eckige, wäre doch zu banal. Aber manchmal enthält auch das Banale das Basale, denn hier kommen zwei geometrische Figuren zusammen, die gegensätzlicher nicht sein können, aber in den beiden Blautönen vereint sind. Den einen, reinen Blauton gibt es demnach ebenso wenig wie die eine, reine Lehre. Ein schönes Ergebnis dieses anregenden Buches, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.