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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

787–790

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Luther, Martin

Titel/Untertitel:

Von den Juden und ihren Lügen. Neu bearb., komm. u. hrsg. v. M. Morgenstern. M. e. Geleitwort v. H. Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD. 3. Aufl.

Verlag:

Wiesbaden: Berlin University Press (Verlagshaus Römerweg) 2016. 328 S. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-7374-1320-6.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Luther, Martin: Von den Juden und ihren Lügen. Erstmals in heutigem Deutsch mit Originaltext und Begriffserläuterungen. Hrsg. v. K.-H. Büchner, B. P. Kammermeier, R. Schlotz u. R. Zwilling. 2., korr. Aufl. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2016. 347 S. = Luthers judenfeindliche Schriften, 1. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-86569-196-5.


Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum sind 2016 zwei Editionen von Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen erschienen. Eine Edition mit einem Geleitwort des Ratsvorsitzenden der EKD, die man insofern eine kirchliche Edition nennen kann. Sie enthält Luthers Text nach dem Original 1543 mit einer durchgehenden Kommentierung durch einen sachkundigen Judaisten, außerdem eine kirchenkritische Edition eines freidenkerischen Verlags, die Luthers Text kommentarlos – auf der linken Seite den Originaltext, auf der rechten Seite eine Übertragung in heutiges Deutsch – wiedergibt. Beide Editionen ergänzen den Text durch ein Glossar bzw. Begriffserläuterungen, dazu enthält die kirchliche Ausgabe einen Anhang »Erwägungen zu einem Dokument der Schande«.
Erstmals seit 1617 erscheint Von den Juden und ihren Lügen in einer Separatausgabe. Jahrhundertelang wurde sie nur in den für Gelehrte bestimmten Gesamtausgaben gedruckt und war einem breiteren Publikum praktisch unbekannt. Einen unbekannten Text bekanntzumachen, nennen die kirchenkritischen Editoren als ihr Motiv, während die kirchliche Edition von der Notwendigkeit spricht, sich mit dem Text auseinanderzusetzen.
Wiederentdeckt haben diese Schrift die Antisemiten des späten 19. Jh.s. Die Völkischen und die Nationalsozialisten haben Aus-züge aus ihr gedruckt. Julius Streicher warf in »Der Stürmer« der evangelischen Kirche vor, sie dem deutschen Volk vorenthalten zu haben. Ein völkischer Theologe brachte sie nach über 300 Jahren 1936 erstmals wieder separat heraus. So sahen sich die Editoren der Münchner Lutherausgabe im selben Jahr veranlasst, einen Ergänzungsband Juden- und Türkenschriften herauszubringen, der diese Spätschrift, zusammen mit der judenfreundlichen Frühschrift »Daß Jesus Christ ein geborner Jude sei« von 1523 und den Türkenschriften aus der Isolierung, die ihr Streicher gab, be­freite.
In der F. A. Z. wandte ich mich am Reformationstag 2014 unter der Überschrift »Die evangelische Kirche verleugnet ihre Geschichte« gegen den von der EKD erweckten Eindruck, der deutsche Protestantismus habe jahrhundertelang unter dem Einfluss dieser Schrift gestanden. Ich erinnerte an die Worte des israelischen Historikers Hillel Ben Sasson, »daß man bis ins 20. Jahrhundert hinein immer nur den Luther von 1523 vor Augen hatte und weniger den Luther von 1543«. Ich schloss mit der Warnung, die EKD sei »drauf und dran, dem erinnerungspolitischen Programm der Nationalsozialisten zu einem späten Sieg zu verhelfen«. Bis zur Spitze der EKD ist diese Warnung nicht gedrungen. Der Ratsvorsitzende der EKD erwähnt in seinem Geleitwort die jahrhundertelange Distanzierung der evangelischen Kirche von Luthers Schrift von 1543 mit keinem Wort .
Durch die Instrumentalisierung der Nationalsozialisten ist die jahrhundertelang kaum bekannte Schrift zu Luthers bekanntester geworden. Es mag ein Bedürfnis für einen Neudruck, wie die kirchenkritische Ausgabe sagt, geben. Eine kirchliche Ausgabe müsste aber auch vom kirchlichen Umgang mit ihr reden. Es gab vor 1933 eine Fülle von kritischen Stimmen in der evangelischen Kirche, von denen hier nur ein Beispiel zitiert sei. Der baltische Theologe Friedrich Lezius urteilte 1892 angesichts des in Russland anschwellenden Antisemitismus: »Es liegt auf der Hand, daß Luther hier nicht aus dem Geist des Neuen Testaments handelte […] Die evangelische Kirche hat daher die Irrtümer des alternden Reformators als für sich nicht verbindlich angesehen und sieht in d er Schrift Luthers ›Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei‹, welche 1523 erschien, den wahren Ausdruck reformatorischen Geistes.«
Das andere, was man dieser Neuausgabe vorwerfen muss: Für die Kommentierung des in der Weimarer Lutherausgabe unzureichend erklärten Textes wurde mit Matthias Morgenstern zwar ein gründlich geschulter Judaist herangezogen, der Luthers Angaben zum Talmud mit großer Sachkenntnis überprüft und an vielen Stellen gegenüber der Weimarer Ausgabe verbessert. In dem Kommentar besteht der große Vorzug der kirchlichen vor der kirchenkritischen Edition. Für den Abschnitt »Zur Wirkungsgeschichte dieses Textes im ›Dritten Reich‹« im Anhang hätte aber ein Historiker herangezogen werden müssen. Dass das nicht geschah, ist für den Band verhängnisvoll.
Zur Wirkungsgeschichte im Dritten Reich werden – wie auch im Vorwort der kirchenkritischen Edition – drei Zeugnisse ge­nannt:
– Erstens das Pamphlet des Thüringer Landesbischofs Sasse »An Hitlers Geburtstag brannten die Synagogen«, durch das Luthers Ratschläge in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet und in vielen Zeitungen nachgedruckt wurden. In einer kirchlichen Ausgabe hätte erwähnt werden müssen, was ein amerikanischer Holocaustforscher jüngst entdeckt hat: dass das Konsistorium einer großen Kirchenprovinz bei der Preußischen Zeitung nach der Quelle dieser Worte fragte. Die Pfarrer Ostpreußens hielten Luthers Ratschläge für eine Erfindung der Nazi-Presse. Das veranlasste den Kirchenminister Kerrl zu der Aufforderung an die Berliner Kirchenkanzlei, in den einzelnen Provinzialkirchen Versammlungen einzuberufen, auf denen den Pfarrern Luthers Schrift von 1543 bekanntgemacht werden solle. Noch 1940, zwei Jahre nach dem Novemberpogrom, gingen die Nazis von der Unkenntnis dieser Schrift bei einem Großteil der evangelischen Pfarrerschaft aus.
– Zweitens die oft zitierten Worte Julius Streichers beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, statt seiner müsse eigentlich Martin Luther auf der Anklagebank sitzen. Nicht erwähnt wird sein schon 1933 im »Stürmer« verbreiteter und während des Dritten Reiches ständig wiederholter Vorwurf an die Kirche, sie habe diese Schrift dem deutschen Volk vorenthalten.
– Drittens die Worte Hitlers, Luther sei der Riese, der mit einem Ruck die Dämmerung durchbrach und den Juden sah, »wie wir ihn heute erst zu sehen beginnen«. Hier wird eine direkte Linie des Einflusses von Luthers Judenschrift auf Hitler gezogen. Das Wort von Karl Jaspers »Was Luther geraten, hat Hitler getan«, das Leitwort der kirchenkritischen Ausgabe, scheint historisch bewiesen zu sein.
Hitlers Worte über Luther werden zitiert nach der Schrift von Dietrich Eckart »Der Bolschewismus von Mose bis Lenin. Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir« (1924). Der antisemitische Dramatiker und Dichter Dietrich Eckart, Gründungsmitglied der NSDAP und Ideengeber Hitlers, hat diese Schrift geschrieben, als Hitler auf der Festung Landsberg saß. Sie ist kein Protokoll gehal-tener Gespräche, kann nicht als historische Quelle benutzt wer-den. Dass Eckarts Dichtung als wissenschaftlicher Beleg für die wirkungsgeschichtliche Linie von Luthers Judenschrift zu Hitler herangezogen wird, ist ein wissenschaftlicher Fauxpas erstens Ranges.
Hitler ereifert sich seit den frühen 20er Jahren in seinen Reden ständig gegen die Juden, aber nirgendwo in seinen zahlreichen Reden wird Luthers Judenschrift von 1543 erwähnt, die er wahrscheinlich gar nicht kannte. Während Eckart seine Gespräche mit Hitler schrieb, verfasste Hitler in Landsberg sein politisches Bekenntnisbuch »Mein Kampf«. Dieses Buch, nicht Dietrich Eckart, muss man lesen, wenn man wissen will, was Luther zu Hitlers Kampf gegen das Judentum beigetragen hat. An einer in der Kirche leider kaum bekannten Stelle (Mein Kampf, München 1933 37, 123) beurteilt Hitler die Brauchbarkeit der beiden großen Konfessionen für seinen politischen Kampf. Der Katholizismus sei nützlich für den Kampf gegen die Juden – Hitler erinnert sich an seine Erfahrungen unter dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger –, für die nationalen Ziele Hitlers wegen seines Ultramontanismus aber weniger. Entgegengesetzt beurteilt er den Protestantismus. »So wird der Pro-tes­tantismus immer für die Förderung des Deutschtums an sich eintreten […] er bekämpft aber sofort auf das feindseligste jeden Versuch, die Nation aus der Umklammerung ihres tödlichsten Feindes zu retten, da seine Stellung zum Judentum nun einmal mehr oder weniger fest dogmatisch festgelegt ist.« Hitler denkt an Luthers Übersetzung der Bibel, mit der er das deutsche Volk »verjudet« habe. Mit dem erwarteten »feindseligsten« Widerstand hat Hitler sogar Recht behalten, wenn man an den Protest gegen die in der Sportpalastkundgebung geforderte Abschaffung des Alten Testaments denkt, der zum Niedergang der Deutschen Christen führte. Leider der einzige Widerstand, den Hitlers Kampf gegen das Judentum bei den Protestanten erfahren hat.
Im Abschnitt »Zum heutigen Umgang mit diesem Text« wird mein Aufsatz »Die evangelische Kirche verleugnet ihre Geschichte« (Deutsches Pfarrerblatt 2014) erwähnt, in dem ich auf die durch den Pietismus bewirkte judenfreundliche Haltung des Protestan-tismus hingewiesen habe. Dass der Pietismus judenfreundlich war, sei nicht von der Hand zu weisen, doch könnten Leute, die keine Fachleute des Pietismus sind, mit diesem historischen Argument wenig anfangen. Nun habe ich für die Abkehr von der späten Judenschrift und die Hinwendung zur Schrift von 1523 nicht auf den Pietismus verwiesen, sondern auf die Jahrhunderte seit dem Pietismus, also auf die Jahrhunderte seit dem Dreißigjährigen Krieg. Matthias Morgenstern hat mir inzwischen zugesagt, bei einer Neuauflage für eine Verbesserung dieser mich falsch wiedergebenden Stelle zu sorgen.
Luthers Judenschrift von 1523, in der er für einen fairen und freundlichen Umgang mit den Juden plädiert, hat der wissenschaftliche Beirat für das Reformationsjubiläum neben die Spätschrift von 1543 gestellt und Letztere eine schwere Hypothek des reformatorischen Erbes genannt, weil Luther hier seine eigene Einsicht von 1523 wieder aufgegeben hat. In dem Geleitwort des Ratsvorsitzenden wird die Schrift von 1523 nirgendwo erwähnt. In den fast tausend Anmerkungen des Textes findet sich nur an drei Stellen ein knapper Verweis auf sie. Dass Luther 1523 die im Mittelalter gegen die Juden erhobenen Beschuldigungen des Ritualmords u. a. als Lügenmärchen zurückwies und forderte, die Juden inmitten der Christenheit freundlich aufzunehmen, erfährt der Leser nirgends. Von den Juden und ihren Lügen wird als die »vielleicht wichtigste«, wie es in der kirchlichen Ausgabe heißt, von Luthers Judenschriften in den Mittelpunkt gerückt.
Saul Friedländer hat in »Das Dritte Reich und die Juden«, dem Opus magnum der internationalen Holocaustforschung, die Mitschuld der Kirchen an der Schoah schonungslos offengelegt. In dem sorgfältig angelegten Register taucht der Name Stoecker einmal, der Namen Martin Luther dagegen an fünf Stellen auf. In allen Fällen handelt es sich um den Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz. In der Holocaustforschung wird das Wort von Karl Jaspers »Was Hitler getan, hat Luther geraten« längst nicht mehr zitiert. Man kann der EKD nur raten, statt an Streicher sich an jüdische Historiker wie Hillel Ben Sasson und Saul Friedländer zu halten. Um der Verständigung von Christen und Juden willen ist es gut, dass sich die evangelische Kirche noch einmal klar von Luthers später Judenschrift distanziert. Doch mit diesem Nachdruck macht sie den Anschein unvermeidlich, dass dem erinnerungspolitischen Programm der Nationalsozialisten zu einem späten Sieg verholfen wird.