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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

786–787

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kuhn, Thomas K., u. Nicola Stricker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erinnert Verdrängt Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. 228 S. = Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-2940-0.

Rezensent:

Anne Käfer

»Der gegenwärtige topos der reformierten Erinnerung scheint noch nicht gefunden, bleibt ein utopos (oder gar atopos?). Keine Erinnerungsorte zu pflegen oder benennen zu können ist bereits ein Ausdruck der kollektiven Schwäche und ein Alarmsignal für eine prekäre konfessionelle Existenz. Dies wäre ein gravierender Befund für eine konfessionelle Gruppe, weil sie bei einem weiteren Verblassen der Erinnerungsgeschichte nicht mehr wird sagen können, was sie eigentlich ausmacht. Aber dann haucht diese Gruppe auch bald ihr Leben aus.« (97)
So resümiert Hans-Georg Ulrichs in seinem Vortrag auf der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus vom März 2015. Seine Ausführungen sind neben weiteren Tagungsbeiträgen abgedruckt im Sammelband »Erinnert Verdrängt Verehrt. Was ist Reformierten heilig?«. – U. geht in seinem Vortrag Orten der Erinnerung nach und stellt dar, dass das deutsche Reformiertentum der ersten drei Jahrzehnte des vergangenen Jh.s in Wuppertal zu lokalisieren sei. Karl Barth sei im zweiten Drittel des 20. Jh.s solch ein »Ort« gewesen. »Mit dem Erinnerungsort Barth gab es einen ständigen Rückbezug auf die ›tapfere‹ und radikale Rolle im so genannten Kirchenkampf. Es entwickelte sich selbst bei den nicht mehr unmittelbar Beteiligten das Selbstverständnis: Wir waren damals die ›Tapferen‹ und konnten widerstehen, weil wir die bessere Theologie hatten.« (90) Dieser Hang zum Widerstand habe reformierte Pfarrer und Theologen in eine anhaltende Bekenntnissituation gestellt. Im letzten Drittel des vergangenen Jh.s habe sich dies in ethisch-politischen Stellungnahmen unter anderem zur »Rassenfrage«, zu Fragen der Ökologie und der Friedenspolitik geäußert. »Überwiegend waren die Reformierten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Linksprotestantismus beheimatet. Optierte man anders, gab es Probleme mit der Gruppenzugehörigkeit.« (95)
Fragen der Gemeinschaftszugehörigkeit werden insbesondere in denjenigen Beiträgen des Bandes thematisiert, die sich mit der Kirchenzucht befassen. Judith Becker referiert Ausführungen Calvins, a Lascos und entsprechende Inhalte des Heidelberger Katechismus zur Kirchenzucht. Dabei bemerkt sie, dass die genannten Theologen Gott als »Autor der menschlichen Handlungen« (62) erkannten. Gleichwohl sollte das einzelne Kirchenglied durch das Mittel der Kirchenzucht zu einem Leben nach vorgeschriebener Ordnung gebracht werden. Der hierfür angenommene theologische Zusammenhang zwischen dem Wirken Gottes und dem Wirken der Kirche wird leider nicht weiter reflektiert. Doch arbeitet B. heraus, dass das Mittel der Kirchenzucht, das über die Jahrhunderte als unabdingbar zum Wohl der Kirche und zum Heil ihrer Glieder erachtet wurde, heutzutage im deutschen reformierten Pro-testantismus abgelehnt werde.
Von Kirchenzucht und Abendmahl nach dem Verständnis Oekolampads handelt Frauke Thees. Sie streicht heraus, dass das Abendmahl zum Zweck der »Erinnerung und Heiligung« gefeiert worden sei (180). Nach Oekolampad solle aus der Erinnerung an die Passion Christi der Dienst am Nächsten folgen. Dieser Dienst diene der Heiligung des einzelnen Christen, der bei ungebührlicher Lebensführung von der Abendmahlsgemeinschaft ausgeschlossen sein sollte.
Die Frage, wer im reformierten Protestantismus als heilig in be­sonderem Maße erachtet wird, bildet einen weiteren Schwerpunkt des Sammelbandes. Nach Hans-Georg Ulrichs hat Karl Barth als »reformierter ›Heiliger‹« Geltung erlangt (92). Als Nationalheiligen Schottlands stellt Gerald MacDonald den Schotten Patrick Hamilton vor, der mit 24 Jahren auf einem Scheiterhaufen vor der Universität zu St. Andrews verbrannt worden sei, weil er der Häresie für schuldig befunden worden war (131–137).
An die Niederländerin Abigael Gerbrants als eine der »Reformed saints« erinnert John Exalto (38). Zwar sei sie nicht aus Glaubensgründen hingerichtet worden, sondern mit 18 Jahren durch Krankheit gestorben. Doch habe sie ihr kurzes Leben an asketischen Frömmigkeitsidealen ausgerichtet, beste Bi­belkenntnisse besessen, ihre Krankheit geduldig erlitten und in ihrem Glauben nicht ge­wankt. Was die Glaubensstärke der »Reformed saints« an­belangt, hebt E. allerdings deutlich hervor: »they were heroes of faith, because it was only God’s grace that had made heroes of them.« (38) Gottes Alleinwirksamkeit von Heil und Glauben wird im Band vielfach betont, wobei zugleich die Relevanz von Kirchenzucht und die besondere Lebensleistung von »Heiligen« herausgestrichen wird.
Zur Frage nach der Bedeutung der »Heiligen« in der reformierten Tradition findet sich im Band ein ausgesprochen lohnender Beitrag von Irene Dingel. Sie stellt heraus, dass die ersten reformierten »Märtyrerbücher« mit ihren Erzählungen von leidenden Heiligen Seelsorge und Trost in Verfolgungssituationen bezweckten. Mit der Zeit jedoch hätte die Erzählung von Märtyrergeschichten weniger auf Trost gezielt als vielmehr an die Lesenden einen »Appell zur Heiligung des Lebens« ausgedrückt (12). Verfolgung und Leid sollte von allen Gemeindegliedern widerstanden werden, damit sie Gottes Heiligkeit nahekämen.
Dass sich das Leben der Glaubenden an Gottes Gerechtigkeit orientieren sollte, hält Marco Hofheinz mit Zwingli fest. H. analysiert kritisch die Rezeption von Zwinglis »Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit« durch Arthur Rich und merkt an, dass dem Wirtschaftsethiker wohl ein voreiliges Übergehen der göttlichen Gerechtigkeit vorzuwerfen sei (113–130).
Vielfältige Erinnerungen an Größen und Orte der reformierten Theologie- und Kirchengeschichte durchziehen den Sammelband. Dabei wird immer wieder auf eine reichhaltige Vergangenheit aufmerksam gemacht und so zugleich nach der reformierten Gegenwart gefragt. Mit der Hoffnung, dass die erinnerte Geschichte sich in Anknüpfung an die Tradition fortsetzen möge, endet der aufschlussreiche Beitrag von Andreas Mertin (39–52). M. geht der Gründung und unterschiedlichen Nutzung der Wasserkirche in Zürich nach; diese Kirche sei heutzutage Ort reformierter Erinnerung.