Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

784–786

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

König, Christian

Titel/Untertitel:

Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 492 S. = Collegium Metaphysicum, 16. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-154836-9.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Die Studie von Christian König ist die überarbeitete Fassung einer von Friedrich Hermanni betreuten Dissertation. Sie untersucht die Erstauflage von Schleiermachers »Reden« und gliedert sich – nach einer Einleitung – in zwei Teile, nämlich eine Untersuchung von Schleiermachers Religionsbegriff und eine Untersuchung seiner Religionstheologie. Ein »Schluss« fasst die Ergebnisse zusammen.
Im ersten Teil (45–325) wird Schleiermachers Religionsbegriff als eine gemütstheoretisch fassbare Passivität verstanden. In ihr werde sich das endliche Bewusstsein des Menschen der Setzung durch das Unendliche (»Universum«) bewusst. Damit werde in der Religion die Vorgegebenheit der Wirklichkeit realisiert. Darum benötige der Mensch zur Koordination seiner Vermögen als endliches Wesen auch und vorrangig die Religion – und nicht nur seine in Theorie (»Metaphysik«) und Praxis (»Moral«) ausgreifenden Aktivitäten (47–118). Die Pointe von Schleiermachers Religionskonzept bestehe darin, dass sich das Unendliche im Endlichen wahrhaft zu erkennen gebe. Schleiermacher vertrete folgerichtig einen »Panentheismus« (203), dessen Springpunkt es sei, dass das Unendliche nicht nur die Totalität der Wirklichkeit einschließe, sondern auch deren »Ur­sprung« (197) darstelle. Ihre bestimmte Gestalt gewinne Religion in »Anschauung« und »Gefühl«, worunter ein » deutungsoffenes Bildbewusstsein« (254.297) und der entsprechende Eindruck auf die subjektive Innerlichkeit (306 ff.) zu verstehen sei. Die Personalität des Gottesbildes hänge bei Schleiermacher davon ab, ob die aper-sonal fassbare Natur oder die personal fassbare Menschheitsgeschichte den Ausgangspunkt religiöser Erfahrung bildeten. Insofern sei die religiöse Phantasie nicht beliebig, wie sie auch an die Logik gebunden bleibe und so auch theologische Reflexionen er­mögliche (309–325). Seine »bildtheoretische« Interpretation (119–253.296–325) setzt K. von »Holzwege[n] der Forschung« (254) ab (254–296). Dazu zählt er zum einen die Deutungen, die Schleiermachers Religionsverständnis an das idealistische Konzept der intellektuellen Anschauung bzw. die »scientia intuitiva« Spinozas heranrücken (254–260). Diese – etwa von Peter Grove bzw. Jörg Dierken vertretenen – Deutungen würden prinzipiell daran scheitern, dass es sich bei Schleiermachers religiöser Anschauung um kein Letztbegründungsprinzip bzw. kein Wissen handele. Zum anderen kritisiert K. andere systematische Zugänge (260–296). Angesichts der etwa von Eilert Herms und Friedrich Wilhelm Graf aufgeworfenen Frage, ob eine Anschauung des Unendlichen ohne unzulässige Verendlichung überhaupt denkbar sei, verweist K. auf seine Deutung von Schleiermachers Konzeption des Unendlichen, welches das Endliche einschließe (260 ff.). Deutlichere Kritik findet die subjektivitätstheoretische Lesart von Schleiermachers Religionsbegriff, so wenig auch die tendenzielle Unterschlagung der subjektivitätstheoretischen Anteile in Schleiermachers Konzeption bei den »Offenbarungstheoretikern« (266 ff.) wie etwa Christian Albrecht und Andreas Arndt einleuchte. Denn die von Ulrich Barth inspirierte »Deutungstheorie« (265 ff.268 ff.) bzw. »konstruktivistische Religionstheorie« (289) mache sich der »Fehlinterpretation« (278) zentraler Textstellen schuldig, »verfehlt« (286) zudem »Schleiermachers Religionskonzept insgesamt« (286) und verkehre Schleiermachers Position in einen »Intellektualismus« (290 ff.) und »Elitarismus« (294) – mit der Gefahr, das »Religionsverständnis insgesamt in religiöse Beliebigkeit abgleiten zu lassen« (294). Dagegen gelte: »Der Clou von Schleiermachers Religionstheorie besteht vielmehr darin, die Erfahrung des subjektunabhängigen Gesetztseins alles Endlichen durch das Unendliche herauszustellen.« (288)
Im zweiten Teil (327–438) unterstreicht K., dass aus Schleiermachers kritischem Religionsbegriff dessen »inklusivistische« Religionstheologie folge. Für Schleiermacher sei die Religion »pluralis-tisch aus Prinzip« (451), da die Anzahl religiöser Anschauungen unendlich, der Mensch aber endlich sei. Die einzelnen Religionen, auf die sich wiederum die religiösen Anschauungen Einzelner beziehen würden, beruhten auf den – von Schleiermacher so be­zeichneten – »Zentralanschauungen«, die sich dem Unendlichen verdanken würden. So seien die Religionen miteinander verwandt und stellten zugleich je die ganze Religion dar. Dennoch unterschieden sich die Religionen nach dem Grad, in dem das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem in ihnen deutlich werde. So nehme Schleiermacher – von verworrener Einheit über bestimmte Vielheit bis zur systematischen Allheit – eine Stufung an (334–394). Während das Christentum zur allerhöchsten Religion avanciere, weil es mit der Vermittlung des Unendlichen und Endlichen die Religion selbst zum Gegenstand mache, scheitere das Judentum bei Schleiermacher, so K., an der Einlösung des Tun-Ergehens-Zusammenhanges, wie es sich letztlich im eschatologischen Aufschub des Messiasglaubens dokumentiere (395–438). Seine Lesart setzt K. von anderen Interpretationen ab, wobei er insbesondere die Deutung von Arnulf von Scheliha im Blick hat (406 ff.410 ff.457, Anm. 86). Gegen dessen Vorschlag, bei Schleiermacher den jüdischen Messiasglauben als Überschreitung der Vergeltungsidee zu begreifen und in diesem Zusammenhang die Problematik des Kanonisierungsprozesses zu fokussieren, wendet K. ein: »Dies ist nicht möglich, da die Idee der göttlichen Vergeltung die jüdische Zentralanschauung darstellt« (407).
In seinem »Schluss«, der die Studie gut zusammenfasst, kommt K. zum Urteil, dass Schleiermachers Religionsverständnis »bescheidener« (465) und damit im Vergleich mit Schellings Potenzenlehre und Hegels Geistverständnis »redlich […]« (465) sei. Insofern sei Schleiermachers Konzept, wie der Titel der Studie lautet, »unendlich gebildet« (465).
Nicht nur über den zuletzt thetisch eingeführten Bezug auf Schelling und Hegel wird man streiten können. So sehr die Studie positiv dadurch auffällt, dass sie an begrifflich-argumentativer Schlüssigkeit interessiert ist, so sehr würde man sich wünschen, dass sie den produktiven Sinn von Ambivalenzen und Alternativen mehr im Blick hätte. So könnten m. E. andere Auslegungen und Positionen stärker gewürdigt und als Auslegung eines dem Referenztext eingeschriebenen Problembewusstseins verstanden werden. Plausibel wäre es m. E. auch gewesen, wenn die Gliederung des Referenztextes eigens vorgeführt und die komplexe Schleiermacher-Forschung nach dem Prinzip hermeneutischer Billigkeit sondiert worden wäre. Letzteres hätte es auch verhindern können, dass – wie etwa im Fall von Ulrich Barth und Jörg Dierken (471 f.474) – mitunter einschlägige Qualifikationsschriften von kritisierten Schleiermacher-Deutungen unberücksichtigt geblieben wären. Sachlich stellen sich die einschlägigen Fragen: Wenn das Unendliche im menschlichen Be­wusstsein wahrhaft erscheinen kann, ist dieses Erscheinen für das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem nicht wesentlich? Wenn es das sein sollte, ist dann nicht auch das menschliche Be­wusstsein für die Konstitution von Religion wesentlich? Und: Könnte nicht genau diese Einsicht – Stichworte: Symbolisierung, Projektionsverdacht und Einbildungskraft – auf der Linie einer bildtheoretischen Schleiermacher-Deutung liegen, wie sie K. ins Spiel bringt?